Mythen

Inhaltsangaben/Content notes: Kaffee, Tiere (Wölfe)

„Meine Güte, Max, siehst du müde aus!“ Jenny schlug sich in der für sie so typisch theatralischen Geste die Hand vor den Mund und sah ihn mit großen Augen an.
Er bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln. „Ich hab heute Nacht einfach nicht besonders gut geschlafen.“
„Na kein Wunder“, ertönte es von der Tür her. „Das wird heute vielen so gehen.“ Claudia betrat mit ihrer grellgrünen Shrek-Kaffeetasse den Pausenraum und stellte sich in die kurze Schlange vor dem Kaffeeautomaten.
„Warum das denn?“ Jenny sah ihre Kollegin mit weit aufgerissenen Augen an, was ihr Gesicht zur Karikatur einer Frage werden ließ. Max fragte sich bei solchen Gelegenheiten immer, wie man eine derartig übertriebene Mimik entwickeln konnte.
Auch Claudia wirkte irritiert. Max unterdrückte das Schmunzeln, das die so unterschiedlichen Gesichtsausdrücke seiner Kolleginnen in ihm hervorriefen, nahm seine Tasse und machte den Platz an der Kaffeemaschine frei.
„Na, heute Nacht war Vollmond“, erläuterte Claudia. „Da schlafen unglaublich viele Leute so richtig schlecht. Hört man doch überall.“
Nun bildeten sich Falten auf Jennys Stirn. „Wirklich? Warum sollte die Mondphase denn den Schlaf beeinflussen?“
Max gab nur langsam Milch in seine Tasse und rührte gründlich um, bevor er sich dem Zucker zuwandte. Dieses Schauspiel wollte er sich nicht entgehen lassen. Claudia war neu hier und kannte Jenny noch nicht, die mit ihrer übertriebenen Mimik und Gestik auf die meisten Leute sehr naiv wirkte. Wie man sich doch durch Äußerlichkeiten täuschen lassen konnte.
„Tja, wer weiß“, sagte die Neue gerade. „Die Menschheit versteht eben noch lange nicht alles.“
„Mondkalender“, wiederholte Jenny langsam und nickte nachdenklich. „Man kann also genau erklären und berechnen, wann wie viel Prozent der Mondoberfläche Sonnenlicht reflektieren, aber nicht sagen, warum das irgendwie anders sein soll als das Licht, das uns direkt erreicht?“
Claudia lächelte schmallippig. „Das ist seit Jahrhunderten bekannt. Und nur, weil man noch keine Erklärung dafür hat, heißt das nicht, dass es nicht stimmt.“ Mit einer knappen Bewegung ergriff sie ihre gefüllte Oger-Tasse, machte auf dem Absatz kehrt und ließ die beiden anderen stehen.
Jenny grinste, als die Tür zum Pausenraum zufiel. „Was haben wir uns denn da eingefangen“, sagte sie an Max gewandt, der gerade den benutzten Zuckerlöffel in die Spülmaschine gab.
Er zuckte beiläufig mit den Schultern. „Angeblich schlafen ja wirklich viele Menschen in Vollmondnächten nicht besonders gut.“
Jenny holte lautstark Luft, trat einen Schritt zurück und legte sich eine Hand auf die Brust. „Auch du, Brutus?“
Max nahm seine Tasse auf. „Na hör mal. Nicht jeder hat Rollläden oder Jalousien an den Schlafzimmerfenstern. Das helle Licht stört manche Leute echt beim Schlafen.“ Er zwinkerte Jenny zu, die auflachte und sich beide Hände übers Herz legte, um zu demonstrieren, wie knapp sie einem Schock entronnen war, und ging in sein Büro hinüber.
Erst dort erlaubte er sich ein breites Grinsen. Wenn Jenny wüsste, dass seine Spezies schon seit Menschengedenken dieses Gerücht vom schlechten Schlaf in Vollmondnächten streute! Und der Plan ging auf: Niemand wunderte sich, wenn Werwölfe sich am folgenden Tag müde wieder unter die Menschen mischten.

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