Familienbande

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Wald

„… let them know it’s Christmas time …“
Na super. Er verzog das Gesicht und drehte die Lautstärke ein klein wenig herunter. Diese Gute-Laune-Weihnachtsmusik konnte er gerade eigentlich gar nicht gebrauchen, aber der Empfang in dieser Gegend war schlecht und er konnte sich glücklich schätzen, überhaupt von irgendwelchem Gedudel abgelenkt zu werden.
Die Straßenverhältnisse änderten sich, je höher er sein Auto den dunklen Berg hinaufquälte, und forderten seine Konzentration. Das lag allerdings nicht am Wetter, das mit klarer Luft, hellem Mondschein und Temperaturen aufwartete, die Glatteis unwahrscheinlich machten, sondern an der kurvigen Straßenführung. Die Gegend hier war dicht bewaldet und es gab nur vereinzelte kleine Dörfer – kein Wunder, dass die schmalen Straßen im Slalom um jeden größeren Baum herumführten. Hierher verirrte sich außer den Einheimischen vermutlich nie jemand – abgesehen von seinen Freunden natürlich.
Und wieder war er bei dem Thema angelangt, das ihm Sorgen bereitete und über das er während der Fahrt eigentlich nicht nachdenken wollte. Bald war er endlich da – hoffentlich kam er nicht zu spät!
Die Musik verstummte und machte dem Nachrichten-Jingle Platz. Erleichtert drehte er noch weiter auf und lauschte mit einem Ohr der Stimme der Nachrichtensprecherin, während er den Rest seiner Aufmerksamkeit auf den Ausschnitt der Straße lenkte, die seine Scheinwerfer erfassten. Mit mäßigem Interesse verfolgte er die Informationen über Politik, Weltgeschehen, neue Forschungen und Verkehrsinformationen aus dem Sendegebiet. Erst, als es um regionale Nachrichten ging, horchte er auf.
„Wie die Polizei auf Nachfrage des Senders bestätigte, lief eine Party in einem Waldgebiet heute Abend gründlich aus dem Ruder. Mitten im Naturschutzgebiet hatten sich gut zwei Dutzend Leute verlaufen, die von den Einsatzkräften eingesammelt wurden. Gerufen wurden sie übrigens von den verängstigten Partygästen selbst. Was meint ihr, wovor könnten sie sich so gefürchtet haben? Ruft an und erzählt uns eure Meinung – nach drei Hits geht’s weiter!“
Na toll – jetzt war es sogar schon in den Nachrichten. Er musste seine Freunde unbedingt da rausholen, bevor man auch sie entdeckte! Entschlossen schaltete er einen Gang runter und trat das Gaspedal weiter durch. Wo war nur der verdammte Wanderparkplatz? Hoffentlich war er noch nicht daran vorbeigefahren!
Drei Kurven später sprang plötzlich ein Tier vor seinen Wagen. Er schrak zusammen, versuchte, gleichzeitig auszuweichen und zu bremsen, eine Herausforderung, die ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Mit wild klopfendem Herzen kam er zum Stehen, genau an der Stelle, an der er soeben noch das Tier gesehen hatte. Wo war es hin? Er hatte es doch hoffentlich nicht erwischt?
Er atmete durch und drehte den Zündschlüssel. Das Radio erstarb und nur das Knacken des warmen Motors störte noch die Ruhe des nächtlichen Waldes. Vorsichtig öffnete er die Tür und stieg langsam aus.
Stille. Obwohl … Als er genauer hinhörte, vernahm er vereinzelte, leise Rufe – vermutlich die Suchmannschaften der Polizei, die sich seiner Position näherten. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnten, sah er in einiger Entfernung auch die Strahlen von Taschenlampen durch den Wald zucken. Und ganz in seiner Nähe, nur wenige Meter vor ihm und fast direkt neben der Fahrbahn, reflektierten zwei Raubtieraugen das Standlicht seines Fahrzeugs.
Einen Moment lang flackerte instinktive Angst in ihm auf und er griff nach der Fahrzeugtür, die er wie einen Schild zwischen sich und das Tier brachte. Leises Rascheln ertönte, als sich ein zweites, dann ein drittes Augenpaar dazugesellte. Erst als sie zu dritt waren, traten die Wölfe aus ihrer Deckung und näherten sich mit leisem Winseln seinem Auto.
Erleichtert ließ er die Autotür los und ging in die Knie. „Ich hatte schon Angst, ich finde euch nicht rechtzeitig“, murmelte er lächelnd. „Mama und Papa hätten mir das nie verziehen!“ Fest schloss er seine Schwester und ihre beiden Freunde in die Arme, bevor er den Kofferraumdeckel öffnete und sie einsteigen ließ, um sie in Sicherheit zu bringen.

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