Bloßer Anschein

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Vögel, Wölfe), Meer

„Sind Sie sicher, dass Sie wissen, worauf Sie sich da eingelassen haben?“ Der Matrose blickte zweifelnd von Jenny zu ihrer Ausrüstung und wieder zurück.
Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. „Aber klar!“ Dann sah sie hinüber zu ihrem wunderbaren neuen Arbeitsplatz.
Drei Monate würde sie auf der Insel, vor der sie lagen, verbringen und die Vögel beobachten. Sie freute sich unglaublich, diesen Job ergattert zu haben – Ornithologie hatte sie von allen zoologischen Disziplinen schon immer am meisten interessiert! Es gab nur leider so wenige Jobs, für die Biologinnen und Biologen mit diesen speziellen Kenntnissen benötigt wurden. Selbst Zoologie fristete inzwischen ein Nischendasein an den Universitäten, verdrängt von allen möglichen und unmöglichen Arten von Molekularbiologie, Genetik oder Mikrobiologie. Die Tätigkeitsbereiche verschoben sich immer mehr von der freien Natur in die Labore. Auch Praktika und Studentenjobs gab es fast nur noch für Leute, die gern Pipetten in der Hand oder Computertastaturen unter ihren Fingern hatten. Daher war es Jenny wie ein Wunder vorgekommen, die Anzeige für eine dreimonatige Vogelbeobachtung auf der Außenstelle der „Schutzstation Wattenmeer“ auf dem digitalen Schwarzen Brett der Fachschaft zu finden. Drei Monate nur sie selbst und die Natur – eine wundervolle Vorstellung! Sie würde die ganze Zeit draußen sein, sich möglichst nah an die Vögel heranschleichen, sie identifizieren, beobachten und am Ende des Tages alles in ihren Notizen festhalten.
„Sie wissen, dass wir nur einmal die Woche vorbeikommen, oder?“ Der besorgt dreinblickende Matrose zog wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich und deutete auf die Kisten, die seine Kollegen gerade in das Schlauchboot verladen hatten, mit dem sie die hafenlose Insel gleich anlaufen würden.
„Aber sicher“, beruhigte sie ihn. „Ich habe sogar den genauen Zeitplan und ein Funkgerät für den Fall, dass ich meine Einkaufsliste ändern möchte.“
Doch auch das ließ die Besorgnis nicht aus den Augen des Mannes weichen. „Sie haben da nur diesen Bauwagen, oder? Es könnte kalt werden. Ich will Sie ja wirklich nicht bevormunden, aber …“ Er seufzte und half ihr an Bord des kleinen Schlauchboots. „Na ja. Viel Glück – wir sehen uns nächste Woche.“
Unbekümmert sprang Jenny ins Boot und ließ sich übersetzen, ohne noch einmal zurückzublicken. Sie wusste, dass der Matrose es nett meinte. Sie war das gewöhnt: Immer wieder glaubten Männer aufgrund ihrer zierlichen Gestalt, sie beschützen zu müssen. Ihr ging das gehörig auf die Nerven und so war sie froh, als sie endlich hörte, wie die starken Dieselmotoren das Schiff von der Insel fortbewegen.
Sie verstaute rasch ihr Gepäck in dem kleinen Bauwagen, der ihr als Unterschlupf diente, und aß die mitgebrachte Portion Gulasch mit Reis, die ihre Mutter gestern vorbereitet hatte. Es war wichtig, dass sie satt zu den Vögeln ging. Immerhin hatte sie fest vor, sie nur zu beobachten.
Hoffentlich klappte alles, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie wollte Teil der Natur werden, so nah an die Tiere herankommen, wie kein Mensch es je geschafft hatte.
Entschlossen streifte sie ihre Kleidung ab, wurde Wolf und trabte in Richtung der ersten Vogelkolonie.

Dieser Beitrag wurde unter Kurzgeschichten abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentar verfassen