Lügen

Inhaltsangaben/Content notes: Wald, Tiere (Wölfe), Gewalt (Schussverletzung)

„Wir sollten wirklich umkehren.“
Die geflüsterten Worte hörten sich im vollkommen stillen Wald seltsam laut an.
Verärgert hob Michael eine Hand und bedeutete Conny mit einer eindeutigen Geste, endlich den Mund zu halten. Er hatte seinen Entschluss gefasst: Er würde nicht in die Zivilisation zurückkehren, bis er das Biest erledigt hatte. Drecksviech, räudiges!
Er packte das Gewehr fester und beschleunigte seine Schritte, die Augen immer direkt auf den Boden gerichtet. Auf die Spur, die er als erfahrener Fährtensucher im hellen Tageslicht leicht hatte verfolgen können. Die einbrechende Dunkelheit ließ nun die seltenen Blutstropfen mehr und mehr mit der Farbe des feuchten Waldbodens verschmelzen. Aber bald müssten sie das Biest eingeholt haben – die Abstände zwischen den einzelnen Tropfen wurden immer kürzer. Es verlor an Geschwindigkeit.
Seit Monaten war er hinter diesem Ding her. All seine Bekannten hielten ihn inzwischen für verrückt, unterstellten ihm Paranoia und Wahnvorstellungen. Nur Conny begleitete ihn noch in den Wald. Ob das aber aus Überzeugung oder Freundschaft geschah, wusste Michael nicht. Und inzwischen war es ihm auch egal. Hauptsache, sie erwischten dieses Monster.
Monster … Anders konnte man das einfach nicht nennen. Es war nicht natürlich, dass Tiere sich in Menschen verwandeln konnten! Ein Fehler der Natur war das, den es auszumerzen galt. Und er würde dafür sorgen, dass dieses Ding vom Angesicht dieser Erde verschwand!
Da! Das Licht der untergehenden Sonne leuchtete nur ganz kurz zwischen einigen Baumstämmen hindurch, doch der verletzte, sich mühsam dahinschleppende Wolf war deutlich zu erkennen gewesen. Endlich!
Michael grinste kalt und stieß Conny an, deutete in die Richtung, in die sie sich wenden mussten. Er hatte keinen Zweifel an ihrem Erfolg – das Vieh war Geschichte!

Doch es kam anders als gedacht. Als Michael die Hügelkuppe überquerte, stand auf der anderen Seite eine Frau an einem Auto und hievte ächzend den schweren Wolf ins Heck des Kombis.
„Halt!“ Mit langen Schritten, das Gewehr erhoben, eilte Michael vorwärts, Conny dicht auf seinen Fersen.
Die Frau zuckte zusammen, schob das Biest rasch vollständig in den Kofferraum und schlug energisch den Deckel zu. Dann wandte sie sich zu den beiden Neuankömmlingen um.
„Haben Sie den Wolf erschossen?“, fragte sie ruhig. Selbstsicherheit lag in ihrem Blick.
Michael schnaubte verächtlich. „Noch nicht. Aber ich erledige das gern für dich, Mädchen. Mach Platz.“ Er zog sein Jagdmesser aus der Scheide und machte Anstalten, sich dem Wagen zu nähern.
Doch die Frau trat ihm furchtlos in den Weg. „Sie geben also zu, auf ein geschütztes Tier geschossen zu haben?“
Geschütztes Tier? Diese Worte beunruhigten Michael ein bisschen. Es klang verdammt offiziell. Oder arrogant. Wahrscheinlich war die Tussi einfach arrogant.
„Du hast doch keine Ahnung, womit du es da zu tun hast“, fuhr er die Frau an. „Das ist ein gefährliches Raubtier, Mädchen.“ Dass es sogar viel mehr war als das, sagte er lieber nicht. Sie würde es ja sowieso nicht glauben.
Sie antwortete nicht. Der unheilverkündende Blick, mit dem sie ihn musterte, verhieß jedoch nichts Gutes. Als wisse sie etwas, das ihm nicht bekannt war. Als plane sie etwas gegen ihn. Als …
„Sie sind Michael Zonegel, nicht wahr?“
Sie kannte sogar seinen Namen! Dann wusste sie mit Sicherheit alles. Auch über die Biester. Vielleicht war sie selbst eins! Er biss die Zähne zusammen und schloss die Faust fester um den Griff des Jagdmessers.
„Ich bin hier die zuständige Försterin. Ich werde Anzeige wegen der Tötung eines geschützten Tiers gegen Sie erheben, Herr Zonegel. Ich werde …“
Michael hörte ihr gar nicht mehr zu. Blind vor Wut hob er sein Messer und stürzte voran, auf die Försterin zu, die –

„Danke“, sagte Marie und sah auf den ohnmächtigen Mann zu ihren Füßen. „Damit hätte ich nicht gerechnet.“
Conny senkte das Gewehr, dessen Kolben Michael Zonegel zu Boden geschickt hatte. „Klar. Ich wünschte, ich hätte ihn früher aufgehalten.“
Überrascht sah Marie auf. „Nein, das war prima so. Ohne dich hätten wir nie von diesem Typen erfahren. Gut, dass du gleich Bescheid gegeben hattest. Sonst wäre es für Chris vielleicht zu spät gewesen.“
Connys Augen weiteten sich. „Du hast doch gesagt, der Wolf sei tot!“
Marie zuckte grinsend mit den Schultern. „Das soll der gute Herr Zonegel ruhig glauben.“ Dann wurde ihre Miene ernst. „Ich rufe die Polizei. Kannst du hier warten? Chris‘ Wunde muss versorgt werden. Ich würde das lieber erledigen, bevor der Vollmond untergeht und ich mir Beschwerden anhören darf, warum wir so lange gebraucht haben.“
Conny nickte erleichtert, setzte sich auf einen gestürzten Baumstamm, das Gewehr locker über den Knien, und sah Marie hinterher, die den Kombi geschickt aus dem Wald hinaus lenkte. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Polizei eintraf?
Lang genug für eine beruhigende Zigarette.
Das Leben mit Werwölfen konnte ganz schön aufregend sein.

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