Schuhe

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Diebstahl

„Hier drüben!“ Hektisch winkte die Klientin in einer Ecke des Gartens und zog so Madame Garous Aufmerksamkeit auf sich. „Sehen Sie, hier, da sind Fußabdrücke!“
Neugierig kam die Detektivin näher. Fußabdrücke wären sehr außergewöhnlich! Was mochte einen Dieb dazu veranlassen, mit bloßen Füßen das Weite zu suchen?
Doch sie wurde enttäuscht. Wie so oft war schlicht die Wortwahl der Klientin nicht allzu genau. Ganz im Gegensatz zu dem wirklich prächtigen Schuhabdruck, der zwischen zwei Rosensträuchern im Erdreich prangte.
„Ah ja“, sagte sie, während sie die Spur musterte. Die Leute, die sie engagierten, mochten es für gewöhnlich nicht, wenn sie bei der Untersuchung eines Tatorts schweigsam blieb. Um die Erwartungen der Dame zu befriedigen, zog Madame Garou ein Maßband aus ihrer Tasche, vermaß den Abdruck und notierte sich die Angaben in einem kleinen Notizbuch, das sie für solche Zwecke immer bei sich trug. Sie fügte auch eine grobe Skizze der Fährte an.
„Weswegen notieren Sie das alles?“ Die Klientin war neben sie getreten und sah mit großen Augen in ihr Büchlein.
Rasch klappte die Detektivin es zu. Sie fand es ungehörig, anderen Leuten in die Unterlagen zu schauen, ließ sich ihre Verärgerung aber nicht anmerken, sondern lächelte höflich. Man musste stets aufpassen und die Auftraggebenden bei Laune halten.
„Wenn ich den Dieb verfolgen soll, muss ich seine Spuren eindeutig erkennen können.“ Sie hatte diese Erklärung gut einstudiert. „Sehen Sie beispielsweise hier – dieser Abdruck hier weist darauf hin, dass einer der Nägel in der Sohle fehlt. Und dieser hier“, sie wies auf eine andere Vertiefung innerhalb der Spur, „steht zweifellos weiter hervor als die anderen. Auch dieser Nagel wird bald verloren gehen.“
Sie ertrug für einige Zeit die überschwängliche Bewunderung der Klientin, die sich darüber ausließ, wie ungewöhnlich es doch sei, dass eine Frau sich so gut mit Fährtenlesen auskenne und wie wundervoll dies wäre.
„Nun, ich habe die Beschreibung des gestohlenen Schmucks und werde mich nun an die Verfolgung des Diebes machen“, leitete die Detektivin ihren Abschied ein. Es wurde Zeit, endlich mit der Arbeit zu beginnen!
„Natürlich, natürlich“, nickt die Klientin eifrig. „Auf dass Ihre Spurensuche Sie zu Ihrem Ziel führen möge! Es ist der Schmuck meiner Mutter, der Herr habe sie selig, und ich wäre untröstlich, wenn –“
„Keine Sorge“, unterbrach Madame Garou sie entschieden. Sie wollte wirklich endlich anfangen. „Sie werden schon bald von mir hören.“ Ohne weiter auf die guten Wünsche der Dame einzugehen, ging sie in Richtung des dichten Waldes, auf den der Dieb seinen Spuren nach zugehalten haben dürfte, und verschwand im Dickicht.
Auf dem Waldboden waren mit bloßem Auge natürlich keine Fährte zu erkennen. Sie schmunzelte. Dass die Menschen aber auch immer wieder auf diese Lüge hereinfielen und glaubten, sie würde Schuhabdrücken folgen. Grinsend legte sie ihre Kleidung ab und wurde Wolf. Sie würde den Dieb anhand seiner völlig unverwechselbaren Duftspur verfolgen.

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