Prioritäten

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder, Krankheit (starke Allergie), Tiere (Hunde, Wölfe)

„Es ist wichtig, dass du die Medizin immer zum Frühstück und zum Abendessen nimmst, verstehst du? Immer einmal morgens, einmal abends. Die Tabletten brauchen zu Essen, damit sie stark sind und dir gut helfen können!“
Niklas nickte eifrig und hielt den kleinen Blister, den die nette Kinderärztin ihm gegeben hatte, so behutsam in den Händen, als sei es ein kostbarer Schatz. Er strahlte seinen Vater an und in diesem Gesichtsausdruck lag so viel Glück und Hoffnung, dass es ihm fast das Herz brach.
„Niklas, würdest du mir einen Gefallen tun?“, sprach die freundlich lächelnde Kinderärztin ihn nochmals an. „Spielst du noch kurz im Wartezimmer mit dem Schaukelelefanten? Ich muss kurz mit deinem Papa noch was besprechen.“
Begeistert nickte der Kleine, stürmte los, machte aber nach wenigen Schritten auf dem Absatz kehrt und kam zurück. „Papa, kannst du die Tabletten nehmen? Sonst wird denen schlecht und sie können nicht mehr so gut helfen!“
Er zwang sich zu einem kurzen Lachen, nahm den Blister entgegen und sah seinem Sohn nach, der voll Tatendrang ins Wartezimmer lief. Niklas liebte dieses Schaukelpferd in Elefantenform, seit er sich selbst darauf festhalten konnte.
Dr. Sabic schloss die Tür zum Untersuchungsraum und wandte sich ihm zu. Sie versuchte zwar, es zu verbergen, doch ihre Mimik zeigte ihre Missbilligung, als sie mit einer knappen Geste auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch deutete und sich selbst zu ihrem Drehstuhl begab. Torsten folgte der stummen Aufforderung und nahm ebenfalls Platz.
„Herr Schmit.“ Nun versuchte die Kinderärztin nicht mehr, ihre Gefühle zu verbergen. „Die Allergie ist wirklich sehr stark ausgeprägt. Sie müssen diesen Hund wirklich abgeben – Niklas hat ja halbe Haarbüschel an seiner Kleidung! Wenn das so weitergeht, werden seine Atemwege irgendwann so sehr zuschwellen, dass er daran ersticken könnte!“
Torsten nickte. Es war nicht das erste Mal, dass Dr. Sabic ihn aufforderte, alle Hunde aus Niklas‘ Reichweite zu entfernen. Dennoch versuchte er es erneut.
„Werden die Antihistaminika denn nicht helfen? Oder könnte man eine Desensibilisierung versuchen?“
Die Kinderärztin schnaubte. „Wollen Sie wirklich, dass Ihr Sohn unter einer Dauermedikation aufwächst? Es ist viel einfacher, das Tier zu entfernen, glauben Sie mir. Ich will ehrlich sein – wenn Sie das nicht endlich einsehen, wäre es mir lieber, Sie suchen sich eine andere Praxis.“
Jetzt stieg Ärger in Torsten auf. „Glauben Sie wirklich, es wäre so einfach? Können Sie sich nicht vorstellen, dass es Umstände gibt, unter denen man ein Tier nicht einfach so weggeben kann?“ Er fand es unmöglich, dass diese Frau sich erdreistete, über seine Lebensumstände zu urteilen, ohne sie zu kennen.
Dr. Sabic erhob sich. „Für mich ist die Frage hier ganz einfach: Ihr Kind oder Ihr Hund. Ich habe meinen Standpunkt klar gemacht – bitte verlassen Sie meine Praxis.“
Mit zu einem Strich zusammengepressten Lippen drehte Torsten der Kinderärztin den Rücken zu und holte Niklas aus dem Wartezimmer. Sein „Tschüs, Elefant“ ließ seine Augen feucht werden – wie sollte er ihm nur erklären, dass er dieses geliebte Spielzeug nicht mehr wiedersehen würde?

Als er ihn in den Kindersitz setzte und anschnallen wollte, legte er seine kleine Hand auf seine. „Bist du sauer, Papa?“
Er seufzte. Dann entschied er sich für die Wahrheit. „Ja, Niklas. Aber nicht auf dich.“
„Auf sie?“ Er wies auf die Praxis.
Er versuchte sich an einem Lächeln. „Ja. Sie möchte, dass wir den Hund weggeben, weil du manchmal niesen musst, wenn du in ihrer Nähe bist.“
Niklas rümpfte seine kleine Nase. „Wir geben doch Mama nicht weg!“
„Natürlich nicht“, erwiderte er lächelnd und gab seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Für Werwolfkinder stand diese Option selbstverständlich nicht zur Debatte.

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