Ein besonderes Geschenk

Inhaltsangaben/Content notes: Tod (erwähnt), Weihnachten

„Sie kommen über den Hügel!“
„Scheiße, sie sind gleich durch!“
„Wo denn?“
„Am Hauptquartier! Ich brauch hier Unterstützung!“
„Warte, ich komme!“
„Ich auch – die packen wir!“
Obwohl die ganze Unterhaltung im spieleeigenen Sprachchat stattfand, war das Adrenalin, das durch die Adern der vier Teammitglieder strömte, förmlich zu spüren. Yannis beeilte sich, zu seinen Kampfgefährten zu stoßen und ihre Flagge zu verteidigen – nur noch eine Minute und zweiunddreißig Sekunden mussten sie durchhalten! Ob seine Munition ausreichen würde?
Eineinhalb Minuten später brandete der Jubel im Sprachkanal auf, so laut, dass seine Kopfhörer und sein Mikrofon die Lautstärke automatisch herunterregelten.
„Leute, wir sind so gut!“, lobte Yannis seine Kameraden.
„Ja, voll das fantastische Team!“, stimmte Paul zu.
Yannis lächelte, als er seine Stimme hörte. Er und Paul hatten miteinander studiert und waren seit Jahren beste Freunde. Die anderen beiden kannte er nicht persönlich. Jan war ein Arbeitskollege von Paul, und Stefan hatten sie in einem Forum aufgegabelt, in dem sie noch nach Mitspielern gesucht hatten.
„Wie sieht’s die nächsten Sonntage aus?“, fragte Yannis gut gelaunt. „Wollen wir unsere Platzierung auf dem deutschen Server ausbauen?“
„Nächste Woche passt bei mir“, antwortete Paul.
„Nee, bei mir nicht. Meine Family will Plätzchen backen und so Zeug“, lehnte Stefan ab. „Ich kann bis Januar wahrscheinlich gar nicht mehr.“

Na wunderbar. Yannis‘ Laune sank sofort in den Keller. Diese beschissene Weihnachtszeit! Man konnte sich ihr einfach nicht entziehen!
Er ließ die kurze Verabschiedung über sich ergehen und fuhr seinen Computer herunter. Ihm war die Lust auf Spielen vergangen. Außerdem war es ohnehin schon spät – er sollte ins Bett, damit er morgen für die Arbeit fit war! Der Gedanke hob seine Stimmung wieder beträchtlich.

Lächelnd ging er ins Badezimmer, um sich bettfertig zu machen.
Er mochte seinen Job, und er bot eine hervorragende Gelegenheit, sich auch im Dezember mit anderen Dingen als der Weihnachtszeit zu beschäftigen. Immer noch staunte er, welche Zufälle zusammengekommen waren, die ihn letztendlich in diese Firma gebracht hatten!
Yannis hatte Bioinformatik studiert. Die Verbindung von Biologie und Informatik, Leben und Logik, hatte ihn unglaublich fasziniert, und als er nach Ende seines Masterstudiengangs eine Doktorandenstelle an einem Hörforschungsinstitut in der nächstgrößeren Stadt gefunden hatte, war sein Leben perfekt gewesen!
Und dann, nur wenige Monate vor dem Ende seiner Doktorandenzeit, waren seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Damit war seine ganze Welt ins Wanken geraten.
Die Kollegen und Freunde hatten alles getan, um ihm zu helfen, ihn aufzufangen, und er hatte es auch geschafft, seine Dissertation einzureichen und die Prüfung zu bestehen. Dennoch war ihm in jedem Moment, in dem ihn jemand mit diesem Mitleid im Blick ansah, klar, dass er hier wegmusste. Er ertrug es einfach nicht mehr.
Und dann kannte Paul da jemanden, dessen Freunde eine Firma gründeten und Mitarbeiter suchten. Die Idee, die hinter dem Unternehmen steckte, gefiel Yannis sehr: Es ging um die Datenerhebung, -auswertung und Maßnahmenautomatisierung in der Landwirtschaft. Er als Bioinformatiker passte hervorragend ins Firmenprofil, seine Dissertation, die sich bereits mit Datenanalyse und automatisierten Auswertungen befasst hatte, konnte wertvollen Input liefern, und die Firma war in einer über 200 km entfernten Stadt, wo ihn niemand kannte.
Schon das Gebäude, in dem die Firma Räume bezogen hatte, begeisterte Yannis am Tag des Vorstellungsgesprächs. Es war auf Start-ups ausgelegt, bot Co-Working-Space und Entspannungsecken, war begrünt und sah modern und einladend aus. Und dann erst die Leute! Er hatte seine neuen Kollegen sofort gemocht, und zwar alle fünf. Sobald klar war, dass er mit ihnen auf einer Wellenlänge war, bekam er ein Einstellungsangebot, und nur drei Tage später war er auf Wohnungssuche.
Seitdem freute er sich jeden Tag auf die Arbeit. Es war herausfordernd und anstrengend, in einem Start-up zu arbeiten, doch es war auch erfüllend, zu sehen, wie sie ihrem Ziel immer näher kamen. Außerdem war es wahrhaftig ein neues Leben für ihn – etwas, das er dringend nötig hatte.


Heute Abend sollte es bei Yannis Burger geben. Direkt nach der Arbeit steuerte er daher den nächstgrößeren Supermarkt an, um Fleisch von der Theke zu kaufen. Alex hatte ihn heute in der Pause auf die Idee gebracht, da sie ihm von ihrem Versuch, vegane Burgerpatties zu machen, berichtet hatte.
„Manchmal ist es ganz schön anstrengend, wenn einige deine Freunde Veganer sind“, hatte sie ihm lachend erklärt. „Aber ich bin ja offen für Neues – und stell dir vor, ich mag diese Quinoa-Patties noch lieber als die aus Hackfleisch!“ Sie holte noch ein Bruchstück aus ihrer Dose und schob es sich genüsslich in den Mund, bevor sie ihm die Dose anbot.
„Willst du ein Stück probieren? Sie sind nicht sehr stabil, aber wirklich lecker!“ Mit einem Grinsen fügte sie an: „Ich habe mich trotzdem nicht getraut, die Bruchstücke zu servieren.“
Dann hatte sie mit der für sie typischen Ausführlichkeit über die übrigen Zutaten berichtet, die sie für ihren „Burger-Bausatz“, wie sie es nannte, zusammengestellt hatte, sodass jeder ihrer Gäste sich seinen oder ihren Traumburger zusammenstellen konnte.
Yannis war das Wasser im Mund zusammengelaufen. Die Quinoa-Patties waren zwar gut, aber er träumte jetzt von einem richtig saftigen Rindfleischburger – den wollte er sich heute Abend gönnen!

Er war keine fünf Schritte tief im Laden, als er es hörte: Last Christmas von Wham! Dieser Song wurde derartig oft gespielt, dass er ihn auch ohne seine Abneigung gegen Weihnachten nicht mehr hören konnte!
Für einen Augenblick erwog er, den Laden direkt wieder zu verlassen, doch er hatte die Einlasssperren bereits passiert. Na ja. So lange würde der Einkauf nicht dauern.

In der Warteschlange zur Kasse starrte er mal wieder fassungslos aufs Weihnachtsregal, das unübersehbar dort aufgebaut worden war, wo die Leute ohnehin nur langsam vorankamen. Lebkuchen, Spekulatius, gefüllte Lebkuchenherzen … und die Dominosteine waren sogar bereits ausverkauft. Es gab sogar noch zwei deutlich im Preis reduzierte Adventskalender … am neunten Dezember! Wer kaufte die jetzt noch?
Wer kaufte jetzt überhaupt noch dieses Weihnachtszeug? Seit September stand es in den Läden! September! Mussten die ganzen Schokoladensachen inzwischen nicht beinahe abgelaufen sein?

Yannis atmete tief durch und konzentrierte sich auf seinen Einkauf. Der Dezember war nicht mehr lang – er würde ihn schon irgendwie hinter sich bringen.


Während das Fleisch in der Pfanne langsam vor sich hin briet, sah Yannis zum Fenster seiner Wohnung hinaus. Sie lag im sechsten Stock, sodass er einige Straßen weit sehen konnte.
In den meisten Gärten und Fenstern hing bereits Weihnachtsdekoration. Lichterketten im vertrauten Warmweiß, einige beleuchtete Drahtfiguren und die unvermeidlichen bunten Blinklichter, die er persönlich nicht besonders mochte, aber dennoch mit Weihnachtsbeleuchtung assoziierte.
Seine Eltern hatten das Haus auch immer festlich geschmückt.
Er schluckte. In seiner Wohnung deutete überhaupt nichts auf Weihnachten hin. Aber das war Absicht – er wollte das Fest nicht feiern. Er wollte nicht einmal daran denken. Denn Weihnachten war für ihn so untrennbar mit seinen Eltern verbunden, dass die Tage ohne sie vollkommen sinnlos erschienen.

Das Klicken des Toasters zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er wandte sich wieder dem Essen zu, erleichtert, etwas zu tun zu haben, das ihn von seinen trübsinnigen Gedanken ablenkte. Er wendete das Fleisch, das er zu zwei flachen Patties geformt hatte, belegte die frisch aufgewärmten Brötchen mit Salat und anderen Dingen, die seiner Ansicht nach auf einen guten Burger gehörten, und stellte sich zwei davon zusammen – einen für heute Abend, einen für morgen Mittag.
Mal sehen, was Alex sagen würde, wenn sie erkannte, wie sehr sie ihn inspiriert hatte!


„Ok. Dann wäre das geklärt.“ Andreas streckte sich und seufzte. „Leute, lasst uns eine Pause einlegen!“
„Ja, eine Runde Tischkicker! Wer macht mit?“ Alex war bereits aufgesprungen und rieb sich voll Vorfreude die Hände.
Yannis grinste. Die beiden Firmengründer könnten nicht verschiedener sein – neben Alex‘ Quirligkeit bot Andreas‘ fast schon stoische Ruhe oft echte Erholung. Wiederum andererseits holte Alex‘ Bereitschaft, Neues auszuprobieren, Andreas oft aus seiner Komfortzone. Diese Ergänzung brachte die Firma wirklich gut voran.
Arif hatte sofort auf Alex‘ Aufforderung reagiert und stand ebenfalls bereits an der Tür. „Auf, Leute, nicht so faul!“
Yannis warf Stephan und Christine ein gespielt verzweifeltes Gesicht zu und folgte den anderen in den Nebenraum.

Arif war im Tischfußball kaum zu schlagen. Zuerst biss Alex sich die Zähne an ihm aus, dann Christine, die dabei wie immer laut fluchte und so kreativ schimpfte, dass alle lachen mussten.
Während Yannis gerade erfolglos versuchte, Arif wenigstens ein einziges Tor zu verpassen, kam Stephan mit sechs Tassen und einer Kanne Tee herein, die er an die übrigen verteilte.
„Wie sieht’s eigentlich mit deinen Weihnachtsvorbereitungen aus?“, fragte Andreas, als er von Stephan eine Tasse entgegennahm.
Yannis verkrampfte sich bei dem Thema und kassierte sofort ein Tor von Arif.
„Oh, gut!“, lachte Stephan fröhlich. „Ich bin so gut wie fertig. Nur beim Lichterkettenaufhängen könnte ich noch Hilfe brauchen, das macht’s einfacher.“ Er klopfte auf seinen Rollstuhl.
„Pffff, das ist ja kein Problem, jederzeit! Was machst du denn jetzt über die Feiertage, Christine?“ Alex hatte Andreas das Gespräch sehr schnell aus der Hand genommen, was den aber nicht störte.
„Wir haben eine nette Ferienwohnung an der Ostsee gefunden“, berichtete Christine grinsend. „Da haben wir ganz sicher unsere Ruhe. Meine Eltern werden wieder den halben Hausstand an Brettspielen mitbringen, das wird super!“
Und dann geschah, was Yannis befürchtet hatte. Alex‘ unsägliche Neugier richtete sich auf ihn. „Und du, Yannis?“
„Nichts“, blaffte er unfreundlicher, als er es beabsichtigt hatte. „Frag nicht.“ Frustriert knallte er den Ball mit voller Wucht ungezielt in Arifs Hälfte hinüber.
Tor!
Doch die Befriedigung, die er wegen seines Treffers verspürte, löste sich gleich wieder in Luft auf, als er vom Kickertisch aufsah.
Arif hatte die Hände von den Griffen genommen und sah ihn prüfend an. Auch die anderen schauten alle in seine Richtung.
Die Blicke verursachten ihm Unbehagen. „Was ist?“, fragte Yannis möglichst leichthin.
„Ja, das würden wir auch gerne wissen“, ergriff Alex das Wort. „Du fährst doch sonst nie so aus der Haut. Haben wir was falsch gemacht?“

Die verunsicherten und betroffenen Blicke der anderen trieben Yannis die Schamesröte ins Gesicht. Er war wirklich nicht er selbst, wenn es um dieses Thema ging.
„Tut mir leid“, sagte er kleinlaut und schluckte. „Ich hasse Weihnachten einfach. Am liebsten würde ich mich bis über beide Ohren in Arbeit verstecken, bis die ganze Scheißdeko wieder weggeräumt wurde“, gestand er leise. Kraftlos stützte er sich auf den Kickertisch, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und starrte auf die regungslosen Männchen hinunter.
Eine Hand legte sich auf seinen Unterarm. „Warum?“, fragte Stephan, der fast lautlos neben ihm aufgetaucht war. „Bist du etwa ganz alleine?“
Yannis schluckte, konnte aber nicht antworten. Eigentlich wollte er auch nicht.
„Komm doch einfach zu mir“, schlug Stephan vor.
Ein bitteres Auflachen entrang sich Yannis Kehle. „Klar doch. Ich will dir doch nicht auf die Nerven gehen. Du hast ja offenbar längst was vor.“

„Hey, Yannis“, ertönte Alex‘ sanfte, aber dennoch ermahnende Stimme. „Vielleicht solltest du besser fragen, was genau er vorhat, bevor du einfach ablehnst.“
„Genau“, stimmte Arif zu.
„Wir würden uns freuen, wenn du auch vorbeikommst“, ergänzte Andreas. „Wir wären nämlich alle alleine, darum treffen wir uns bei Stephan.“
Überrascht hob Yannis endlich den Blick und begegnete dem der anderen. „Warum wärt ihr alle alleine?“, fragte er verblüfft. Für ihn war es immer so völlig selbstverständlich gewesen, Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht hatte, ob das auch für andere galt.
Arif lachte. „Also, meine Eltern fahren über die Feiertage in die Türkei und treffen alte Freunde. Da muss ich echt nicht unbedingt dabei sein!“
„In meiner Familie wurde noch nie Weihnachten gefeiert“, erklärte Andreas. „Da fangen wir jetzt auch nicht mehr damit an.“
„Wie bei uns“, stimmte Christine ein. „Wir treffen uns nicht zum Weihnachtenfeiern, sondern für einen Familienurlaub.“
„Und ich hab keine Lust“, sagte Stephan. „Meine Eltern, meine Schwester und ich sind zu meiner Tante eingeladen. Aber die wohnt in einem Hochhaus, das alles andere als barrierefrei ist – und ich hab keine Lust, die ganzen Feiertage über von den anderen abzuhängen.“ Dann zog er einen Mundwinkel hoch und schnaubte verächtlich. „Es ist ganz nebenbei auch noch eine tolle Ausrede: Ich kann die Frau eh nicht leiden. Aber meine Eltern wollten nicht schon wieder absagen, und irgendwann haben sie mir endlich geglaubt, dass es für mich ok ist, wenn sie dieses Jahr ohne mich feiern.“
„Und ich versteh mich nicht mehr mit meinen Eltern“, sagte Alex tonlos. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.
„Ich hab die anderen schon vor Monaten eingeladen“, sagte Stephan und drückte Yannis‘ Arm. „Da warst du noch gar nicht hier. Aber ich würde mich echt freuen, wenn du auch kommst.“

Die Situation überforderte Yannis. Er blinzelte und schluckte, um die Tränen zurückzuhalten, dann lächelte er. Es war eine schöne Idee, so viel besser als alleine zuhause Computerzuspielen.
Er nickte wortlos und biss sich auf die Lippen.
„Super, dann wäre das ja geklärt“, sagte Alex. „Wir gehen dann schon mal wieder an die Arbeit, nicht wahr, Leute?“ Sie scheuchte alle bis auf Yannis aus dem Raum, drückte ihm sanft die Schulter und schloss die Tür von außen.

Zitternd atmete Yannis ein und wieder aus, wartete einige Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Das Angebot war so überraschend gekommen, und die Einsamkeit, die er die ganze Zeit empfunden hatte, war so plötzlich von diesem Gemeinschaftsgefühl ersetzt worden – er wusste gar nicht, wie er damit umgehen sollte. Die Aussicht auf Heiligabend war mit einem Mal so viel leichter geworden, dass er sich emotional völlig erschöpft einige weitere Minuten Pause gönnte, bevor er ins Büro zurückkehrte und wieder an die Arbeit ging.
Niemand sprach ihn an diesem Tag noch einmal darauf an. Man ließ ihm Zeit.
Er liebte diese Leute einfach.


In den darauffolgenden Tagen wurde immer mal wieder kurz über Heiligabend gesprochen. Je mehr er über die Pläne erfuhr, desto klarer wurde Yannis, dass es sich nicht nur um ein zwangloses Beisammensitzen handeln würde – die anderen hatten untereinander ausgemacht, wer was mitbringen würde, und wie es sich anhörte, würde das eine richtige Feier werden!
Wenn es wirklich eine Weihnachtsfeier war – brachte man dann nicht eigentlich auch Geschenke mit?
Diese Frage beschäftigte ihn bald seine ganze Freizeit über. Weihnachtsgeschenke waren üblich. Außerdem würde er den anderen gerne seine Wertschätzung ausdrücken – sie hatten ihn, ohne es zu wissen, in einer wirklich schwierigen Phase seines Lebens so vorbehaltlos und offen willkommen geheißen, waren inzwischen alle mehr Freunde als Arbeitskollegen. Er wollte es richtig machen – jedem etwas schenken, das individuell zu der Person passte!
Was sollte er nur auswählen?


Der Samstag vor dem dritten Advent. Unglaublich, wie viele Leute an diesem Tag einkaufen gingen!
Yannis schob sich durch Menschenmassen, besah sich Auslagen und durchwühlte Angebotsartikel. Er hatte sich lange überlegt, was er suchen könnte, doch er war sich immer noch nicht ganz sicher.
Alex würde sich sicherlich über Kosmetik oder Schminksachen freuen. Sie liebte dieses Zeug und nutzte es kiloweise – aber es gab viel zu viel Auswahl, als dass er sich sicher sein konnte, was sie mochte oder wirklich brauchen konnte. Auch ein Gespräch mit einer Beraterin brachte ihn kein Stück weiter.
Andreas war ein Pragmatiker. Egal, was Yannis besorgen würde, es musste praktisch sein. Andreas fuhr täglich mit dem Rad zur Arbeit – vielleicht würde er in der Sportabteilung fündig werden? Doch auch hier überforderte ihn die schiere Anzahl der Möglichkeiten, und er floh nach einer halben Stunde aus der hoffnungslos überrannten Abteilung.
Arif war ein Bastler. Er lötete furchtbar gerne an seinem Arduino herum – für ihn wäre wahrscheinlich eine Handvoll Kabel optimal! Aber das war so banal, dass Yannis auch diese Entscheidung auf später verschob.
Und Stephan? Er war nicht nur ein Freund, sondern auch der Gastgeber. Dem brachte man in der Regel etwas Besonderes mit. Aber was? Er las gern, das wusste Yannis, vor allem spannende Krimis und Thriller. Aber was hatte er schon und was nicht?

Nach vier Stunden Quälerei im Kaufhaus kehrte er fürchterlich gestresst, aber ohne ein einziges Geschenk gekauft zu haben, wieder nachhause zurück. Er beschloss, noch ein wenig mehr darüber nachzudenken, bevor er sich am nächsten Samstag erneut ins Chaos wagte. Für heute hatte er genug – er würde noch eine Weile Computerspielen.

Im Sprachchat unterhielt er sich eine Weile mit Paul, während sie eine entspannte Runde Diablo spielten.
„Meine Kollegen haben mich an Heiligabend zum Essen eingeladen“, erwähnte Yannis nach einer Weile.
Verdutztes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann: „Echt?“
Yannis musste Paul nicht sehen, um die Freude in seinen Worten zu erkennen. „Ja. Überrascht dich das?“
Paul lachte. „Die Einladung nicht, aber dass du hingehen willst!“
Yannis schnaubte. „Woher willst du wissen, dass ich das mache?“
„Ach komm schon – ich kenn dich doch!“ Jetzt war das Grinsen unüberhörbar. „Das hast du längst beschlossen!“ Dann wurde Pauls Stimme erst, obwohl immer noch ein Lächeln darin mitschwang. „Ich freu mich, ehrlich. Ich hatte befürchtet, du verkriechst dich einsam zuhause.“
Yannis wusste nicht, was er antworten sollte. Paul hatte sich Sorgen um ihn gemacht? War die gute Laune, die er immer an den Tag legte, nur Fassade gewesen, um Yannis aufzumuntern und ihn von seinen Sorgen abzulenken? So musste es sein …
„Danke“, erwiderte Yannis leise. Dann wechselte er rasch das Thema. „Weißt du, wann die neue Season anfängt? Ich glaube, wir haben hier langsam echt alle Sets gefunden …“


Es war zum Verrücktwerden! Die ganze Woche über hatte er nachgedacht und sich mit den anderen möglichst unauffällig über ihre Hobbys und die kommende Feier unterhalten. Trotz allem war ihm einfach nichts eingefallen, das seinen Ansprüchen an ein Weihnachtsgeschenk auch nur nahekam! Und hier, in einem der größten Kaufhäuser der Stadt, inmitten der vielen redenden, rufenden, lachenden, schimpfenden Menschen, dem Gepiepse von Kassen, Geraschel von Verpackungen, Quietschen der Rolltreppen und der konstanten Untermalung durch wahllose Weihnachtsmusik, konnte er einfach auch keinen klaren Gedanken mehr fassen! Nur noch drei Tage!

Entnervt verließ er die Rolltreppe in einem Stockwerk, das nicht ganz so überlaufen war, und schlug sich in die hinterste Ecke durch, um ein wenig Ruhe zu finden.
Büromaterialien. Kein Wunder, dass hier kaum jemand unterwegs war.
Die relative Stille half ihm, wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er atmete tief durch und konzentrierte sich: Er musste das Problem jetzt endlich lösen, wenn er irgendetwas Vernünftiges besorgen wollte!
Das Einzige, das ihm bisher brauchbar vorkam, war, den anderen Gutscheine für ihre Lieblingssachen zu besorgen. Doch das war zwar pragmatisch, verfehlte aber genau den Kern dessen, was er eigentlich beabsichtigte: Es war weder persönlich noch drückte es seine Wertschätzung aus.

Ein Mann, eine Frau und ein Kind kamen an ihm vorbei. Sie lachten, und der Vater strich dem Kind liebevoll übers Haar.
„Aber du musst vorsichtig damit sein“, ermahnte er es sanft.
„Bin ich ganz bestimmt! Ich werde es machen wie Mama“, antworte das Kind begeistert und sprang mit leuchtenden Augen vor, um die Vitrine mit den qualitativ hochwertigen Füllfederhaltern zu bestaunen.
Unvermittelt wurden Yannis‘ Augen feucht. Die Aussicht, mit den anderen Heiligabend zu verbringen, hatte ihn so wunderbar abgelenkt, doch dieser Anblick brachte die ganze Trauer über den Verlust seiner Eltern wieder zurück.
Eilig ging er ein paar Gänge weiter, wo niemand ihn sehen würde. Er war ein erwachsener Mann, es war ihm peinlich, dass er über fünf Monate nach dem Tod seiner Eltern immer noch Gefahr lief, in der Öffentlichkeit deswegen zu weinen. Hastig blinzelte er die Feuchtigkeit aus den Augen.
Er stand vor einer Auswahl von Papieren. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, tat er so, als würde er die Auslage betrachten, während er wartete, bis er sich wieder vollständig beruhigt hatte.
Und dann sah er es.
Schönes, cremeweißes Briefpapier. Die letzte Packung.
Ungläubig ließ er seine Fingerspitzen über die Plastikbox gleiten, in der die Bögen und dazugehörigen Umschläge präsentiert wurden. Seine Mutter hatte immer gerne Briefe und Karten geschrieben, viel lieber als E-Mails oder Textnachrichten. Sie hatte Yannis auch seinen ersten Füller besorgt, genau, wie die Eltern, die er gerade beobachtet hatte. „Es gibt nichts Persönlicheres als einen richtigen Brief“, flüsterte er und wiederholte damit, was sie stets lächelnd gesagt hatte, wenn er sie mal wieder damit aufzog, wie lange sie für das Schreiben benötigte. „Diese Zeit bringt man nur für wichtige Menschen auf.“
Durch die Tränen, die ihm plötzlich über die Wangen liefen, lächelte Yannis. Er wusste, was seinen Kollegen und Paul schenken würde.


„Ich glaube, ich platze!“ Stephan stöhnte und schob den Teller demonstrativ von sich. „Was war das eigentlich, Arif?“
Der Angesprochene grinste. „Salzkrustenbraten – ich hab das Fleisch extra beim Metzger bestellt. Und das andere waren …“ Er holte rasch sein Smartphone aus der Tasche und sah nach. „Herzoginkartoffeln und eine hochwertige Gemüsekomposition aus Prinzessbohnen, Babymöhren, Champignons, Mais und Romanesco.“
„Das war ein Fertigmix?“ Yannis staunte nicht schlecht – es hatte ihm ausgezeichnet geschmeckt.
Arif verdrehte grinsend die Augen und steckte das Telefon wieder in die Tasche. „Ey, ich und kochen … wenn du wüsstest, wie viel Arbeit ich mir gemacht habe, damit das hier überhaupt was wird! Das mach ich nur für euch!“
„Ein hervorragendes Stichwort!“ Alle Augen wandten sich Andreas zu. „Da du, Stephan, uns den Ort zur Verfügung gestellt hast und du, Arif, dich ums Essen gekümmert hast, haben Alex und ich uns auch Gedanken gemacht!“
Alex sprang auf und holte eine Tüte aus dem Flur, während Andreas weitersprach. „Wir sind wahnsinnig froh, dass wir euch haben. Ohne euch würde das Ganze nicht so laufen, wie es das tut. Ihr seid ein Superteam. Danke dafür!“
Alex drückte jedem eine Schachtel in die Hand. „Na los, aufmachen!“ Sie hüpfte vor Aufregung auf und ab, was alle lachen ließ, bevor sie ihrer Aufforderung nachkamen.
„Ich hab eine Freundin, die ist Grafikdesignerin“, plapperte Alex aufgeregt weiter, „Der hab ich Fotos von euch geschickt – ich hoffe, es gefällt euch!!!“
Und wie es das tat! Yannis, Stephan und Arif bestaunten die Tassen, auf denen sie alle in Superheldenkleidung als Comicfiguren dargestellt waren.
„Die sind genial!“ – „Wirklich!“ – „Und so gut getroffen!“
Alex strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als die anderen die Idee lobten, und auch Andreas war offenkundig wirklich stolz und zufrieden.

„Ich hab euch auch was mitgebracht“, sagte Yannis, und es kehrte wieder Ruhe ein. „Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen.“
„Hey, das wäre nicht nötig gewesen“, sagte Alex lächelnd. „Du wusstest ja von nichts –“
„Trotzdem“, unterbrach Yannis sie und hob die Hand. „Das ist mir wichtig.“ Er räusperte sich. „Wisst ihr … ihr wisst gar nicht, wie froh ich bin, euch zu haben. Nein, lass mich ausreden, Alex – das fällt mir so schon schwer genug!“ Er hatte ihnen nie erzählt, warum er hier war, und das wollte er nun endlich nachholen. Er bat Alex mit einem Lächeln um Verzeihung, atmete tief durch und sprach weiter.
„Vor einem halben Jahr hatten meine Eltern einen tödlichen Autounfall. Meine ganze Welt war plötzlich aus den Fugen geraten. Ich bin förmlich weggelaufen vor all dem, was mich überall andauernd an sie erinnert hat, und dass ihr jemanden für diesen Job hier gesucht hattet, war wie ein Wink des Schicksals. Erst dachte ich, es wäre einfach nur eine tolle Gelegenheit, irgendwo Fuß zu fassen – aber ich mag euch viel mehr, als ich gedacht hätte. Für mich seid ihr viel mehr Freunde als Kollegen. Ihr seid super.“ Er grinste und prostete ihnen mit der leeren Superteam-Tasse zu. „Damit ihr wisst, wie super ihr seid, hab ich es euch aufgeschrieben. Ich dachte, ein bisschen Lob zu Weihnachten kann nicht schaden.“ Er griff unter den Tisch, zog seinen Rucksack hervor, entnahm ihm die Briefe und verteilte sie. „Lest sie vielleicht besser erst zuhause, das wird jetzt sonst ein bisschen gefühlsduselig“, murmelte er leicht verlegen.

Weiter kam er nicht, weil er sich in einer erdrückenden Gruppenumarmung wiederfand. Doch er beschwerte sich nicht, sondern schloss die Augen und genoss es einfach. Und vor seinen Freunden schämte er sich für die Freudentränen, die ihm dabei entkamen, überhaupt nicht.

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