Im Falle eines Falles

Inhaltsangaben/Content notes: Überfall, Werwolf

Meine Güte, war das schon spät! Marcel bekam sofort ein schlechtes Gewissen, als er auf die Uhr sah, und zog noch im Treppenhaus auf dem Weg zur Straße sein Telefon aus der Hosentasche.
„Hi Mama, ich bin’s“, sagte er, als das Gespräch angenommen wurde. „Tut mir echt leid, ich geh erst jetzt los. Wir haben uns irgendwie festgespielt und ich hab total die Uhrzeit vergessen.“ Kurz lauschte er. „Ja, klar, mach ich. Versprochen. Bis später!“
Er lächelte, als er das Telefon zurück in seine Tasche schob. Ob Eltern jemals damit aufhörten, „Pass auf dich auf“ zu sagen, wenn man irgendwo unterwegs war? Vermutlich nicht. Aber irgendwie war das auch schön.

Mit langen Schritten überquerte er das Gelände, auf dem das weitläufige Studentenwohnheim stand, und eilte in Richtung Busbahnhof. Viele seiner Freunde wohnten hier, dicht am Unigelände. Ein wenig beneidete er sie um den kurzen Weg zu den Vorlesungen, zur Bibliothek oder manchen Partys. Aber andererseits würde ihm seine Familie viel zu sehr fehlen, wenn er sie nicht täglich sehen könnte. Und mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauerte die Fahrt zwischen ihrem Ort und der Unistadt auch nur ungefähr 40 Minuten. Das war wirklich verschmerzbar.

Je länger er im Bus saß, desto weiter schweiften seine Gedanken ab, bis er seiner Umgebung gar keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Er verlor sich in Erinnerungen an das Brettspiel, das er vorhin mit einigen Kommilitoninnen gespielt hatte. Es hatte Potenzial zum Süchtigmachen. Ob er es sich auch kaufen sollte? Es war leider nicht gerade günstig …
Er schreckte hoch, als der Busfahrer den Motor abstellte. Die Zeit war wie im Flug vergangen! Außer ihm befand sich nur noch eine Person im Bus, verborgen in einem bequem aussehenden, viel zu großen Hoodie. Seltsam – Marcel erkannte nicht, um wen es sich handelte, und er wurde auch nicht gegrüßt. Dabei gab es nur wenige Leute hier, die er nicht kannte.

Er schenkte der Person keine weitere Beachtung, trat auf die regenfeuchte Straße und machte sich auf den Weg nach Hause. Dunkle Wolken hingen am Himmel. Hoffentlich verlängerte der Regen seine Pause noch ein wenig – einen Schirm hatte er nicht dabei. Sicherheitshalber beschleunigte er seine Schritte und bog in eine der schmalen Gassen ab.
Unvermittelt trat an der nächsten dunklen Hausecke eine Gestalt in seinen Weg. Marcel erkannte sofort die Person aus dem Bus. Noch immer verbarg die Kapuze ihr Gesicht. Hatte der Typ ihn auf der Parallelstraße überholt oder sich verlaufen? Irgendwas war komisch an dieser Sache … Er blieb stehen, schob eine Hand in die Tasche und tippte eine bestimmte Tastenkombination auf seinem Smartphone. Nur sicherheitshalber. Dabei sah er die fremde Gestalt an. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Ein heiseres, verächtliches Lachen ertönte. „Klar. Ich könnte ein bisschen Kohle gebrauchen.“ Mit einem Klacken öffnete sich ein Springmesser in der Hand des Fremden.
Ungläubig starrte Marcel auf die Klinge. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Hatte der Typ sie noch alle? Hier, in seinem Dorf, wurde doch niemand überfallen! Und benutzte man dafür echt Springmesser? War das nicht ein bisschen … Er wusste auch nicht, wie er das fand. Die ganze Situation erschien ihm unglaublich surreal.
„Jetzt rück schon deine Kohle raus, Mann!“ Der Fremde hob das Messer und kam einige Schritte auf Marcel zu. Irgendetwas in der Art, mit der der andere die Waffe hielt, flößte ihm Angst ein. Es lag so viel Selbstverständlichkeit darin. Er schluckte und trat ein wenig zurück.
Darauf hatte der andere wohl nur gewartet. Mit beeindruckender Schnelligkeit überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und schubste Marcel gegen die Hauswand. Der verlor dadurch das Gleichgewicht und stützte sich instinktiv mit den Händen hinter sich ab – die Chance für den Angreifer, ihn direkt mit der Klinge zu bedrohen.
„Dann hol ich mir deine Kohle eben selbst“, murmelte der Typ mit seiner unangenehmen, heiseren Stimme und begann, Marcels Hosentaschen abzutasten.
Ein tiefes, kehliges Knurren ertönte in fast unmittelbarer Nähe. Unwillkürlich grinste Marcel, als er spürte, wie der Angreifer erstarrte. „Du willst jetzt vielleicht lieber gehen“, sagte er in aller Seelenruhe. „Mein großer Bruder kann sonst ganz schön ungemütlich werden.“
Langsam drehte der Typ den Kopf und starrte in die Schatten. Eine riesenhafte, breitschultrige Silhouette bewegte sich in verstohlenen Bewegungen auf die beiden Männer zu. Die Augen reflektierten das schwache Licht, das die alten Straßenlaternen vorne an der Hauptstraße spendeten und das gerade so nicht ausreichte, um Details zu erkennen. Als das Ding ein weiteres Knurren ausstieß, keuchte der Angreifer entsetzt auf, ließ das Messer fallen und rannte davon.
Marcel lachte und sah dem Typen hinterher. „Ich gebe zu, du hattest recht mit dieser Notfall-App. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich sie mal so nah an zuhause brauche.“
Der große Werwolf legte ihm eine Pranke auf die Schulter. „Man weiß nie“, antwortete er. „Lass uns heim gehen. Es ist noch Abendessen da.“

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