Verschwörungsmythen

Inhaltsangaben/Content notes: Verschwörungsmythen, Party

Das hier war ganz sicher die schlimmste Party seines Lebens. Warum hatte er nur auf seinen Kumpel Stefan gehört und ihn begleitet? Der saß seit gut einer Stunde mit einem Dauergrinsen an der Bar und unterhielt sich angeregt mit einer Kommilitonin, während er, Peter, irgendwie an einen Tisch geraten war, an dem sich Leute ernsthaft über die schädliche 5G-Strahlung und die zunehmende Macht der Reptiloiden in der Regierung austauschten. Am Anfang hatte er das noch für einen Witz gehalten, doch seit ihm klar war, dass einige Personen das wirklich zu glauben schienen, hatte er jegliches Interesse an dieser Unterhaltung verloren. Wie kam er hier nur wieder weg? Immer wieder versuchte er, Stefans Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, damit der ihm einen Vorwand lieferte, sich aus dem Staub zu machen. Doch sein Kumpel hatte nur Augen für seine Gesprächspartnerin.

Der Mann, der neben ihm auf der Bank saß, stieß ihm leicht den Ellbogen in die Rippen. „Hey, lass mich mal aufstehen. Ich muss mal eben mein Getränk zurückbringen.“
Irritiert sah Peter ihn zum ersten Mal an diesem Abend an. Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, was der Mann von ihm wollte.
„Ach so“, murmelte er hastig und grinste. „Sorry, hab ich nicht gleich kapiert.“ Er verlagerte seine Position, um dem anderen ein wenig mehr Platz zu bieten. Dann nutze er die Fluchtmöglichkeit und stand ebenfalls auf. „Wenn du weißt, wo hier die Toiletten sind, folge ich dir sogar.“

Kaum waren sie außer Hörweite der Leute am Tisch, seufzte Peter erleichtert auf.
„Hat dich der Quatsch auch so genervt?“, fragte sein neuer Gesprächspartner daraufhin und schenkte ihm ein Lächeln. „Ich bin übrigens Ben.“
Automatisch nickte Peter freundlich. „Peter. Freut mich. Und: Ja, hat er. Wie kann man nur so einen Mist glauben?“
Gemeinsam betraten sie den Toilettenbereich und traten an die Urinale.
„Weiß auch nicht“, brummte Ben. „Vielleicht haben sie irgendwie das Gefühl, das was Komisches vor sich geht?“
Peter lachte. „Oder sie haben einfach eine überbordende Fantasie!“
„Glaubst du nicht, dass es geheime Gruppen gibt, die unter uns leben?“
Er grinste. „Meinst du jetzt die Reptiloiden, Illuminaten oder jemand anderen?“
Ben ließ sich Zeit, trat ans Waschbecken und wusch sich die Hände. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck erwiderte er dann: „Hast du noch nie was Seltsames beobachtet?“
Jetzt wurde es tatsächlich interessant. „Tja, vielleicht …“, sagte Peter vieldeutig. „Und du?“
Gemeinsam verließen sie den Toilettenbereich. Ben antwortete nicht sofort, sondern sah sich in alle Richtungen um, als fürchte er, belauscht zu werden. Dann deutete er auf eine einsame Ecke und forderte Peter mit einer Kopfbewegung auf, ihn dorthin zu begleiten.
Kaum waren sie weit genug von allen anderen entfernt, brachen die Worte förmlich aus Ben heraus. „Vielleicht kennst du das ja selbst? Leute, die ganz normal wirken. In deiner Nachbarschaft wohnen, in deinen Vorlesungen sitzen, vielleicht sogar locker mit dir befreundet sind. Nie wirklich sehr eng.“
Peter sah sein Gegenüber irritiert an. „Klar, solche Leute gibt’s ’ne Menge und –“
Mit heftigem Kopfschütteln unterbrach Ben ihn. „Nein, warte. Die Leute sind total normal – außer, dass sie nie, wirklich absolut nie, Zeit haben, wenn Vollmond ist. Egal, was für ein Event da stattfinden soll. Wirklich nie.“ Sein Blick wirkte gehetzt, als er ihn über die Menschenmenge schweifen ließ. „Ist dir so was nie aufgefallen?“
„Nein, nie.“ Peter lächelte beruhigend. „Ich verstehe ja, dass dir solche Zufälle komisch vorkommen. Aber meinst du nicht, dass es dafür auch andere Erklärungen geben könnte?“
„Du glaubst, ich bin wie die da drüben.“ Ben sah zu dem Tisch, an dem die Verschwörungsmystiker saßen und sich immer noch angeregt unterhielten.
Peter schüttelte ernst den Kopf. „Nein. Darum diskutiere ich mit dir ja.“ Dann lächelte er. „Ich hol mir was zu trinken – soll ich dir was mitbringen?“

Bens dankbaren Blick im Rücken begab Peter sich zur Theke. Und während er auf die Bestellung wartete, schickte er eine Nachricht an seinen Leitwolf: „Jemand hat einen von uns im Verdacht. Ich finde raus, wer es ist, dann brauchen wir ein gutes Alibi. Umzug wäre vielleicht angesagt.“
Zuversichtlich steckte er das Telefon wieder in die Hosentasche. Sie würden die Sache schon schaukeln – so wie immer.

Dieser Beitrag wurde unter Kurzgeschichten abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Kommentar verfassen