Zähne

Inhaltsangaben/Content notes: (hohes) Alter, Geburtstagsfeier, Zähne

Mit einem genüsslichen Seufzen lehnte Albrecht sich auf dem bequemen Sofa zurück und schloss die Augen. Nur für einen Moment natürlich – der Höhepunkt des Festes stand immerhin noch bevor!
Seit Wochen hatte er geplant, organisiert, herumtelefoniert und Gespräche geführt. Er hatte dieses Haus mit Grundstück angemietet, eine Cateringfirma mit der Bereitstellung eines Fingerfood-Buffets beauftragt, mit dem örtlichen Getränkehändler um den Preis eines gut gefüllten Kühlwagens gefeilscht und Parkmöglichkeiten für alle Gäste gesucht. Und selbst das Wetter war ihm hold: Keine einzige Wolke stand am Himmel und die Luft war angenehm warm.
Lächelnd ließ der das bisherige Fest Revue passieren. Alle waren gekommen. Nicht nur die, mit denen er ohnehin fest gerechnet hatte, nein, auch die übrigen Verwandten und Freunde hatten es sich nicht nehmen lassen, diesen Tag mit ihm zu verbringen! Er hatte so viele Glückwünsche entgegengenommen, mit den zahlreichen Kindern gespielt und den andächtig lauschenden jungen Leuten auf deren Bitten hin Geschichten erzählt. Er war es nicht mehr gewohnt, derartig im Mittelpunkt zu stehen, doch er genoss es in vollen Zügen. Es war schön, dass man nicht vergessen wurde, nur, weil man alt war und keine eigenen Kinder hatte.

„Na, alter Mann?“ Zärtlicher Spott klang in der Stimme mit. „Du willst doch hoffentlich nicht schlapp machen?“
Albrecht öffnete die Augen und sah Barbara im Türrahmen stehen. Erfreut lächelte er sie an. „Ganz sicher nicht! Wenn du wüsstest, wie lange ich mich schon auf den heutigen Tag freue!“
Mit beschwingten Schritten kam sie näher und setzte sich neben ihn. „Es ist schön, dass du hier bist. Was für ein wundervoller Zufall, dass dein Geburtstag auf eins unserer Treffen fällt!“
Tief berührt strich er ihr mit der Hand über die Wange, wie er es schon so oft getan hatte, als sie noch ganz klein gewesen war. „Ich bin auch froh, dass ich hier bin. Und dass ich immer noch willkommen bin.“
Lachend ergriff sie seine Hand und hielt sie fest. „Natürlich bist du das! Du bist fast so fit wie jeder andere hier!“ Kurz zögerte sie, bevor sie fürsorglich fragte: „Hast du genug gegessen?“
Er grinste, ließ sich auf die Beine ziehen und streckte sich zu voller Größe. „Keine Sorge. Wenn die neue Chefin sagt, ich sei fit, werde ich sie bestimmt nicht enttäuschen!“ Dann drückte er ihre Schulter. „Wie lange noch? Meine alten Knochen sagen, dass es bald soweit ist.“
Barbara nickte und sah auf die Uhr. „Eine Dreiviertelstunde.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Ich geh zu den anderen – die sind zum Teil schon bereit. Oder brauchst du Hilfe?“
Lachend winkte er ab. „So fit wie die anderen, meintest du doch! Ich werde deine Erwartungen nicht enttäuschen!“
Sie grinste und ging zurück in den Garten. Von draußen ertönten die Geräusche von Unterhaltungen und spielenden Kindern, durchmischt mit fröhlichem Bellen und Lachen. Sehnsucht wallte in Albrechts Brust auf. Gleich würde er zu ihnen stoßen. Er beeilte sich, ins Badezimmer zu gelangen.

Dort zog er sich aus vollständig aus und legte seine Kleidung sorgfältig beiseite, bevor er sich im Spiegel betrachtete. Er mochte sein Aussehen, selbst die lange Narbe am linken Oberschenkel, die er längst als Teil seines Körpers akzeptiert hatte. Wenn man die vielen Falten in seinem Gesicht ignorierte, sah man ihm seine 78 Lebensjahre fast nicht an.

Fast. Er lächelte wehmütig, nahm sein Gebiss aus dem Mund und legte es sorgfältig ab.
Wenige Sekunden später machte sich der zahnlose alte Werwolf auf den Weg zu seinem Rudel.

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