Strandspaziergang

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder, Sturm, Tiere (Wölfe)

Besorgt wandte sie sich um und warf einen Blick in die Landschaft hinter ihr. Je weiter sie ins Inselinnere blickte, desto stärker waren die Sandhügel mit windgepeitschtem Gras bewachsen, wurden zu stabilem Untergrund, auf dem gut 350 Meter von ihr entfernt einige kleine Gebäude standen. Um diese Jahreszeit und bei diesem Wetter war zwar nicht zu erwarten, dass sich jemand für einen Spaziergang an den Strand verirrte, aber man wusste nie.
Fröstelnd zog sie den Parka enger um ihren Körper und sah wieder auf den Kiesstrand hinunter. Dort spielte ihre Tochter Marie. Sie war so sehr auf den gelben Tennisball fokussiert, dass sie weder die Böen des Herbststurms noch das Donnern der Wellen, die sich nur langsam auf dem Strand verliefen, wirklich wahrzunehmen schien. Sie schob den Ball hin und her, quietschte vergnügt, wenn eine Unebenheit das Spielzeug wie von selbst in Bewegung versetzte und sie es wieder einfangen konnte.
Die Wolken, die sich aus westlicher Richtung näherten, waren schwarz wie die Nacht und türmten sich bedrohlich auf. Tanjas Gefühl sagte ihr, dass ihnen ein wirklich heftiger Sturm bevorstand. Angst breitete sich in ihrem Magen aus. Nun würde sich zeigen, ob das kleine Häuschen, das sie hier mit ihrem Mann als Unterschlupf errichtet hatte, den Gewalten der Natur standhalten konnte. Ihre Nachbarn hatten sich über die Hütte amüsiert, insbesondere darüber, welchem Zweck sie dienen sollte – etwas, das man auf einer so kleinen Insel natürlich nicht geheimhalten konnte. „Kein vernünftiger Mensch ist bei dem Wetter drüben auf der Düne“, hatten sie lachend erklärt. „Du siehst doch rechtzeitig, wenn ein Unwetter kommt – dann fährst du eben schnell wieder rüber in dein sicheres Haus! Ist ja nicht weit!“ Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die relative Einsamkeit der Düne manchen Leuten gefiel.
Sie ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen, um Maries Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Komm“, rief sie gegen den Wind.
Doch die Kleine wollte nicht. Obwohl sie ihre Mutter auf deren Signal hin angesehen hatte, wandte sie ihr nun demonstrativ den Rücken zu und tat so, als existiere nur ihr Tennisball.
Tanja fühlte sich innerlich entsetzlich zerrissen. Einerseits wollte sie Marie so gerne noch ein bisschen spielen lassen. Diese Momente waren so selten, so kostbar. Andererseits wurde die Situation immer gefährlicher. Sie mussten unbedingt in den Unterschlupf!
Sie pfiff ein weiteres Mal durchdringend, doch diesmal sah Marie nicht einmal zu ihr hinüber. Damit ließ sie ihrer Mutter keine andere Wahl. Tanja zog seufzend Leine und Halsband aus der Tasche und ging ihre widerspenstige kleine Werwölfin einfangen.

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