Unverständnis

Inhaltsangaben/Content notes: Umweltschäden, Beziehungsende, Tiere (Wölfe)

Was sollte sie damit nur machen?
Ratlos sah Christin auf ein etwa zeigefingergroßes, mit zahllosen winzigen Löchern übersätes Ding in ihrer Hand hinunter. Es war ein Geschenk gewesen, ein Mitbringsel von einem Tauchurlaub, an dem sie nicht hatte teilnehmen können. Marcel hatte es ihr mitgebracht und mit theatralischer Gestik überreicht, kaum, dass er wieder zuhause angekommen war.
Zuhause. Traurig sah sie sich um. Um sie herum standen viele Kartons, alle nur teilweise befüllt mit persönlichen Habseligkeiten, dekorativem Krimskrams, Lieblingsbüchern, Kleidung, Kuscheldecken und anderen Sachen. Auf dem großen Wohnzimmertisch türmten sich Gegenstände, bei denen die Zuordnung zur richtigen Kiste schwerfiel. Zum Teil erinnerte sie sich schlicht nicht mehr: Hatte sie damals dieses lustige Sofakissen gekauft, auf dem der Spruch „Nur ein Viertelstündchen“ prangte, oder war er das gewesen? Andere Dinge hatten sie gemeinsam angeschafft, die Ausgaben dafür aufgeteilt. Der Fernseher war da vermutlich das teuerste Beispiel. Oder nein – das Sofa. Das hatte sie damals sogar noch mehr Geld gekostet, als sie diese Wohnung eingerichtet hatten.
Ihr Blick blieb an einer unglaublich weichen, warmen Kaschmirdecke hängen, die achtlos zusammengeknüllt in einer Ecke lag. Der Anblick erregte ihren Unmut. Er wusste, wie sehr sie diese Decke mochte und dass sie es gar nicht leiden konnte, wenn er sie so herumliegen ließ! Ob das wohl Absicht war? Wollte er sie jetzt, zum Ende ihrer Beziehung, mit Kleinigkeiten ärgern?
Rasch beruhigte sie die aufkeimende Wut in ihrem Innern. Sie durfte nicht zulassen, dass sie die Selbstbeherrschung verlor. Sie atmete tief durch und sah sich mit nüchternem Blick nochmals um.
Das hier war nicht mehr ihr Zuhause. Beziehungen endeten – so war es nun mal. Und eigentlich war dieses Ende auch keine Überraschung, zumindest jetzt, in der Retrospektive. Ihre Zukunftspläne, die gemeinsame Wohnung – wenn sie nun darüber nachdachte, erkannte sie, dass sie so einiges einfach überstürzt hatten. Die Eigenschaften, die sie und ihren Exfreund zu verbinden schienen, waren rein oberflächlicher Natur. In den Dingen, auf die es ankam, unterschieden sie sich gewaltig. Sie würde beispielsweise nie eine seiner Sofadecken so achtlos hinwerfen.
In dem Moment, in dem sie die Hand nach der Kaschmirdecke ausstreckte, um sie aufzuheben, fiel ihr Blick wieder auf den kleinen Gegenstand in ihrer Faust. Noch so ein Beispiel. Niemals hätte sie ein Stück von dem wunderschönen Korallenriff abgebrochen, nur um so ein sinnloses Souvenir zu verschenken. Die bloße Vorstellung weckte einen tiefliegenden Zorn in ihr. Wie konnte man nur so respekt- und rücksichtslos mit der Natur umgehen?!
Zusammen mit dem Stück Koralle pfefferte sie alle nostalgischen Erinnerungen an ihre Beziehung in den Müll. Bloße Menschen waren unmöglich. Sollte sie je wieder Interesse an einem romantischen Partner haben, würde sie sich auf bekanntem Terrain umschauen. Die Mentalität der anderen Leute aus ihrem Werwolfrudel verstand sie einfach besser.

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