Feine Nase

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), food (Trüffel), Einbruch

Fahles Mondlicht fiel durch die kahlen Baumwipfel und beleuchtete schwach das verrottende Laub. Der monotone Klang des Regens wurde nur gelegentlich durch das Platschen eines größeren Tropfens unterbrochen, der von einem der Äste mitten zwischen die modrigen Blätter fiel. Und durch verstohlene Schritte, die sich leise durch die klamme Nacht schlichen.
Mit größter Vorsicht bewegte sie sich zwischen den Stämmen. Obwohl das Wetter fürchterlich und die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet hier und jetzt jemandem zu begegnen, ziemlich gering war, musste sie so umsichtig wie möglich sein. Auf keinen Fall durfte man sie heute Nacht erwischen.
Zweifellos würde das Loch, das sie in den Maschendrahtzaun geschnitten hatte, früher oder später entdeckt werden. Doch bis dahin hoffte sie, mit ihrer kostbaren Beute längst über alle Berge zu sein. Ihr Auto stand nur einige Dutzend Meter vom Schlupfloch im Zaun entfernt – sobald sie hatte, was sie suchte, konnte sie innerhalb weniger Minuten wieder verschwinden.
Rastlos wanderten ihre Augen durch den kahlen Forst. Er sah in dieser verregneten Winternacht ausgesprochen trostlos. Wären die Stämme nicht mit Markierungen besprüht, würde man sich hier allzu leicht verlaufen. Aufmerksam suchte sie die Nummer, auf die sie es abgesehen hatte: 235.
Endlich fand sie die gesuchte Zahl. Sie prangte auf der Borke einer beeindruckend großen, alten Eiche, deren Äste sich so weit ausgebreitet hatten, dass alle anderen Bäume ein gutes Stück von ihr entfernt wuchsen. Verdammt. Das vergrößerte ihr Suchgebiet beträchtlich. Und die Stelle, an der die berühmte Trüffel wuchs, war auch nicht wie erhofft markiert.
Aufmerksam stand sie da und lauschte in die sie umgebende Dunkelheit. Einige Augenblicke vergingen, in denen der Regen auf ihren Parka traf, sich zu größeren Tropfen vereinigte und an dem wasserdichten Stoff hinunterrann. Die Stille bestätigte ihre Beobachtung: Die Wachen drehten ihre Runden nur selten. Man verließ sich hier darauf, dass die fehlenden Markierungen der Stellen, an denen die Trüffel wuchsen, einen Diebstahl unmöglich machten.
Man hatte eben nicht mit Ihresgleichen gerechnet. Für die feine Nase eines Wolfs war es ein Kinderspiel, den stark duftenden Pilz aufzuspüren und zielgerichtet danach zu graben. Mit einem breiten Grinsen öffnete sie den Reißverschluss ihres Parkas und begann, sich für die Verwandlung auszuziehen.

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