Geschmäcker sind verschieden

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe, Wildschweine), totes Tier (kurze grafische Beschreibung), Verwesungsgeruch

Außer den leise in der Hitze zirpenden Grillen war kein Laut zu hören. Ein Lichtstrahl, der durch die Blätter des großen, ausladenden Kirschbaums fiel, traf genau ihre Augen. Unwillig knurrte sie, drehte sich zur Seite und rief dadurch ein weiteres wenig begeistertes Geräusch hervor. Das stammte aber nicht von ihr.
Verschlafen blinzelte sie in die Helligkeit und sah sich um. Tahir lag neben ihr im weichen Gras und grummelte vor sich hin – er war eindeutig noch nicht wirklich wach. Martina lag ein Stück weiter, kratzte sich wegen der Insekten, die sie im Schlaf gestochen hatten. Jan erleichterte sich gerade am Baumstamm und Matthias, der Neue, lag eingerollt in ihrer Mitte und schlief noch fest.
Wie spät mochte es wohl sein? Gähnend streckte sie sich und versuchte, anhand des Sonnenstandes die Uhrzeit abzuschätzen. Es war … na ja, irgendwann vormittags. Ohne Armbanduhr war sie bezüglich der Zeit völlig aufgeschmissen. Aber wer war das heutzutage nicht? Kein Grund, sich zu schämen. Ärgerlich war es allerdings schon: Wann kamen die anderen wohl, um sie abzuholen?
„Hey, Leute.“ Mit einem trägen Winken machte sie sich allen bemerkbar. „Weiß jemand von euch, wie lange es noch dauern könnte, bis wir eingesammelt werden?“
Jan kam zu ihnen herüber. „Schätze, noch ’ne Stunde“, brummelte er und rieb sich den Bauch. „Mann, ich hab so einen Hunger, ich könnte allein ein ganzes Schwein fressen.“
Sie grinste. „Das hast du heute Nacht auch versucht!“
Alle kicherten, auch Jan. „Hey, stimmt! Ist davon nicht noch was da?“ Voll neugewonnener Energie sah er sich um und sie tat es ihm gleich.
Die Wiese, auf der sie lagen, war von zahlreichen Obstbäumen bestanden. Die Kirschen des großen Baumes, unter dem sie den Vormittag verschlafen hatten, waren längst geerntet, doch in ihrer Nähe hingen einige Apfel- und Birnbäume voller prächtiger Früchte. Dennoch glitt ihr Blick einfach darüber hinweg. Ihr war mehr nach der Wildsau von letzter Nacht. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie das herrlich warme Fleisch beinahe noch schmecken, die Textur auf ihrer Zunge spüren, fühlen, wie der Bissen ihre Kehle hinunterrutschte, wenn sie ihn verschlang …
Da! Jan entdeckte die Reste ihrer gestrigen Mahlzeit im gleichen Moment wie sie. Sie beeilte sich, wollte unbedingt vor ihm dort drüben ankommen, unter dem Pflaumenbäumchen, überholte ihn tatsächlich und … schlug sich würgend die Hand vor den Mund. Nicht nur der Anblick der aufgerissenen Bauchdecke war abstoßend, auch der widerliche Gestank, der von dem toten Tier ausging, raubte ihr fast den Atem. Betreten kehrte sie mit Jan unter den Kirschbaum zurück, wo ihr Tahir grinsend eine Birne entgegenstreckte.
„Keine Sorge. Mit der Zeit wird es leichter, sich daran zu erinnern, dass einem als Mensch nicht unbedingt das schmeckt, was man in Wolfgestalt lecker fand.“

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