Rache

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Mord, Rache

„Na sieh mal einer an. Ich hätte nicht gedacht, dass du so leicht einzufangen bist.“
Er antwortete nicht, hob noch nicht einmal den Kopf, sondern ließ sich weiter von den beiden Typen aufrecht halten, die seine Arme gepackt hielten. Die letzten Tage waren außerordentlich anstrengend gewesen, da war es beinahe eine Wohltat, sich so hängen zu lassen. Und es machte den beiden Kerlen das Leben ein bisschen schwerer. Gut so.
Der Adlige, der mit einem makellosen, glänzenden Rapier vor seiner Nase herumwedelte und seinen Blick vom staubigen Boden auf sich zu ziehen versuchte, kam noch einen Schritt näher. Seine Stimme triefte vor Verachtung, als er ihn erneut ansprach. „Du bist sogar als Mensch nur ein räudiger Köter. Kannst du dich eigentlich selbst riechen? Das ist ja widerlich!“ Er ging einmal um seinen Gefangenen herum. „Abstoßend, wie du hier rumläufst!“ Dann wandte er sich an die beiden Fußsoldaten. „Sorgt dafür, dass er was anhat, wenn ich ihn nachher zum Verhör im Kerker sehe. Hier gelten Regeln!“ Mit einer schneidigen Bewegung drehte er sich um und stolzierte davon.
Für einen kurzen Augenblick verzog der Gefangene verächtlich die Lippen, als die beiden Männer ihn davonzerrten.

„Rede gefälligst“, befahl der Adlige zwei Stunden später in barschem Ton. „Wie viele von euch gibt es noch?“
Im Blick des Gefangenen loderte Hass. Er hatte bisher beharrlich geschwiegen, doch als ihn nun die Faust eines Soldaten in den Magen traf, schnappte er nach Luft und knurrte.
„Ach ja.“ Der Adlige lächelte. „Ich hatte ja fast vergessen, dass ich mit einem räudigen Köter rede und nicht mit einem vernünftigen Menschen. Obwohl du nicht ganz so dumm bist, wie deine Freunde es waren, nicht wahr? Immerhin hast du es geschafft, wegzulaufen.“ Er lachte höhnisch.
Obwohl der Gefangene sich fest vorgenommen hatte, sich nicht reizen zu lassen, loderte bei diesen Worten unbändige Wut in ihm auf. Im Stich gelassen! Nein, er hatte sein Rudel nicht im Stich gelassen. Seine Freunde, seine Familie, waren bereits tot gewesen. Beim letzten Vollmond hatte dieser Mensch sie mit seinen Soldaten dahingemetzelt. Gegen so viele gut gerüstete und mit Piken bewaffnete Männer hatte das knappe Dutzend Wölfe keine Chance gehabt. Er hatte das gewusst. Sie hatten das gewusst. Das Einzige, was ihm geblieben war, war, sie zu rächen.
Und diese Zeit war nun gekommen.
„Wenn hier jemand dumm ist, dann bist du es!“ Er spuckte dem Adligen die Worte förmlich ins Gesicht, der ob des plötzlichen Selbstbewusstseins seines Gefangenen irritiert wirkte. „Wie viele wir sind? Mehr, als du ahnst!“
Die Herausforderung in seinen Worten verärgerte sein Gegenüber sichtlich. Der Mann hob drohend sein Rapier. „Wie kannst du es wagen? Du Kreatur solltest wissen, wo dein Platz ist!“
Der Gefangene lachte freudlos auf. „Kreatur …“ Er sprach das Wort langsam aus, als koste er es auf seiner Zunge, spüre dem Gefühl nach, das es hinterließ. „Weißt du überhaupt, was wir sind?“
Zorn zeigte sich in den Augen des Adligen. Er schnaubte. „Dumme Bauern seid ihr, die sich zu Vollmond in nutzlose Wölfe verwandeln und mein Wild reißen! Aber weißt du was?“ Grinsend beugte er sich herunter und schaute dem Gefangenen mit einem überlegenen Grinsen direkt in die Augen. „Du wirst mir ab jetzt dabei helfen, deine Freunde zu finden, zu jagen …“, er ließ eine kurze Pause folgen, „… und sie ein für alle Mal auszulöschen!“
Das leise Lachen des nun plötzlich völlig ruhigen Gefangenen jagte allen Anwesenden einen Schauer über den Rücken. „Wer jagen will, sollte seine Beute kennen.“ Er zeigte ein gefährliches Grinsen und richtete sich zu voller Größe auf. Die Soldaten wichen unwillkürlich ein Stück vor ihm zurück und beobachteten mit schreckgeweiteten Augen, wie sein Mund sich zu einer Schnauze verlängerte, Fell aus seiner Haut spross und sein Körper sich zu dem eines großen Werwolfs veränderte.
Dann schlug er zu.

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Strandspaziergang

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder, Sturm, Tiere (Wölfe)

Besorgt wandte sie sich um und warf einen Blick in die Landschaft hinter ihr. Je weiter sie ins Inselinnere blickte, desto stärker waren die Sandhügel mit windgepeitschtem Gras bewachsen, wurden zu stabilem Untergrund, auf dem gut 350 Meter von ihr entfernt einige kleine Gebäude standen. Um diese Jahreszeit und bei diesem Wetter war zwar nicht zu erwarten, dass sich jemand für einen Spaziergang an den Strand verirrte, aber man wusste nie.
Fröstelnd zog sie den Parka enger um ihren Körper und sah wieder auf den Kiesstrand hinunter. Dort spielte ihre Tochter Marie. Sie war so sehr auf den gelben Tennisball fokussiert, dass sie weder die Böen des Herbststurms noch das Donnern der Wellen, die sich nur langsam auf dem Strand verliefen, wirklich wahrzunehmen schien. Sie schob den Ball hin und her, quietschte vergnügt, wenn eine Unebenheit das Spielzeug wie von selbst in Bewegung versetzte und sie es wieder einfangen konnte.
Die Wolken, die sich aus westlicher Richtung näherten, waren schwarz wie die Nacht und türmten sich bedrohlich auf. Tanjas Gefühl sagte ihr, dass ihnen ein wirklich heftiger Sturm bevorstand. Angst breitete sich in ihrem Magen aus. Nun würde sich zeigen, ob das kleine Häuschen, das sie hier mit ihrem Mann als Unterschlupf errichtet hatte, den Gewalten der Natur standhalten konnte. Ihre Nachbarn hatten sich über die Hütte amüsiert, insbesondere darüber, welchem Zweck sie dienen sollte – etwas, das man auf einer so kleinen Insel natürlich nicht geheimhalten konnte. „Kein vernünftiger Mensch ist bei dem Wetter drüben auf der Düne“, hatten sie lachend erklärt. „Du siehst doch rechtzeitig, wenn ein Unwetter kommt – dann fährst du eben schnell wieder rüber in dein sicheres Haus! Ist ja nicht weit!“ Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die relative Einsamkeit der Düne manchen Leuten gefiel.
Sie ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen, um Maries Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Komm“, rief sie gegen den Wind.
Doch die Kleine wollte nicht. Obwohl sie ihre Mutter auf deren Signal hin angesehen hatte, wandte sie ihr nun demonstrativ den Rücken zu und tat so, als existiere nur ihr Tennisball.
Tanja fühlte sich innerlich entsetzlich zerrissen. Einerseits wollte sie Marie so gerne noch ein bisschen spielen lassen. Diese Momente waren so selten, so kostbar. Andererseits wurde die Situation immer gefährlicher. Sie mussten unbedingt in den Unterschlupf!
Sie pfiff ein weiteres Mal durchdringend, doch diesmal sah Marie nicht einmal zu ihr hinüber. Damit ließ sie ihrer Mutter keine andere Wahl. Tanja zog seufzend Leine und Halsband aus der Tasche und ging ihre widerspenstige kleine Werwölfin einfangen.

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Sinne

Inhaltsangaben/Content notes: Blindheit, Tiere (Wölfe)

Vorsichtig tastete Andrea sich Schritt um Schritt voran. Er hasste den Herbst. Überall lag Laub herum, die Blätter türmten sich in Schichten und waren einfach nur im Weg. In der Stadt war das ja kein großes Problem, dort wurden die Gehwege regelmäßig gefegt, doch hier, auf dem schmalen Waldweg, tat das natürlich niemand. Nicht, dass er das nicht verstand, dennoch ärgerte er sich gerade darüber, weil es guttat, seine Frustration auf etwas Konkretes richten zu können.
Eigentlich müsste er den kleinen Rastplatz, wo sie sich verabredet hatten, doch längst erreicht haben, oder? Unsicher blieb er stehen und lauschte, aber alles, was er hörte, war das monotone Rauschen des Winds in den Blättern. Wie weit war es noch bis zu der Biegung, hinter der der Treffpunkt lag? Laut seiner Zählung hatte er schon mehr Schritte zurückgelegt als normalerweise nötig … Nein. Nein, heute ging er sehr viel vorsichtiger als sonst, um auf dem nassen, schlüpfrigen Laub nicht auszurutschen. Er würde die Kurve zweifellos gleich erreichen. Ganz sicher.
Ein Rascheln in seinem Rücken ließ ihn innehalten. Was war das? Ein Tier im Gebüsch? Kaum, dass er darauf achtete, erstarb das Geräusch. Vielleicht waren es ja nur fallende Blätter gewesen … Oh, er hasste den Herbst! Und er trieb sich schon viel zu lange auf diesem Weg herum. Es wurde Zeit, dass er den Rastplatz erreichte!
Entschlossen packte Andrea den Griff seines Stockes fester, bewegte dessen Ende immer über dem schmalen Grasstreifen, der für ihn die Mitte des Waldwegs markierte, und schritt zügiger aus. Er war diesen Weg schon so oft gegangen, es wäre doch gelacht, wenn er nicht innerhalb weniger Minuten sein Ziel –
Vor lauter Schreck schrie er kurz auf, als sein Fuß wegrutschte und er ins Straucheln geriet. Sein Stock, sonst eine Hilfe im Alltag, verfing sich durch die plötzliche Bewegung zwischen den Grasbüscheln und behinderte seine Ausweichbewegung, sodass er haltlos mit den Armen rudernd zur Seite kippte. Instinktiv schloss er die nutzlosen Augen, als er im Fallen die ersten Zweige berührte.
Doch sein Sturz endete ebenso abrupt, wie er begonnen hatte. Er hörte ein Keuchen, als er auf eine starke, mit dichtem Fell bewachsene Brust traf. Zwei Pfoten, die gegen seine Hüfte gestemmt wurden, stabilisierten ihn, sodass er sein Gleichgewicht wiederfand und sich mit klopfendem Herzen wieder aufrichtete.
Der Geruch nach nassem Hund und das charakteristische Hechelgeräusch verrieten ihm eindeutig, wer ihn da vor dem Fall bewahrt hatte. Er legte dem großen Wolf, der immer noch auf den Hinterbeinen vor ihm stand und sich an ihn lehnte, eine Hand auf die Schulter.
„Danke, Alex“, sagte er und lächelte. „Diese verdammten Herbstblätter sind echt rutschig. Begleitest du mich zu den anderen?“
Ein zustimmendes Brummen ertönte und der Wolf ging wieder auf alle viere, hielt sich dicht bei ihm und lotste ihn um die hinderlichsten Stellen herum.
Andrea war froh, dass Alex ihn gefunden hatte. So war alles viel einfacher. Gleich würde er bei den anderen sein. Er konnte es kaum erwarten, sich dem Rudel anzuschließen, endlich auch die Gestalt zu wechseln. Manchmal wünschte er, er könnte dauerhaft in Wolfsgestalt leben: Der exzellente Geruchssinn, sein feines Gehör und die großartigen Tasthaare an der Schnauze glichen die verlorene Sehkraft beinahe aus.

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Inklusive Adventsgeschichte 2020

Beim Belletristica-Adventskalender findet ihr heute meinen Beitrag: Eine inklusive Geschichte über zwei Leute, die sich ohne die Pandemie vermutlich nie kennengelernt hätten.

Wenn es etwas gibt, das mir bei Geschichten im Allgemeinen am Herzen liegt, dann ist es Inklusivität. Ich möchte gerne, dass alle Menschen ein paar Geschichten finden, in denen sie sich selbst wiedererkennen können oder in denen ihre Lebensumstände als Teil unserer Kultur wiedergegeben werden. Darum arbeite ich daran, auch in meinen Geschichten immer wieder Menschen vorkommen zu lassen, die irgendeiner Minderheit angehören und deren Existenz aber nicht darauf beschränkt wird. Interessante Figuren, die eben zufällig nicht dem 08/15-Klischee entsprechen.

Natürlich bin ich sehr weit von Perfektion entfernt. Ich habe zwei besonders große Schwachpunkte, um die ich weiß und die ich auch gerne angehen möchte: Die Hautfarbe meiner Figuren wird praktisch nie erwähnt, weswegen sie mit Sicherheit von den meisten Leuten weiß gelesen werden (von mir leider meist auch), und Armut als Hindernis kommt auch praktisch nie vor. Diese beiden Themen möchte ich unbedingt mehr in meine eigene Schreiberei inkludieren.

Bei Belletristica wurde auch dieses Jahr von einigen Usern wieder ein Adventskalender organisiert. Während ich von einigen Geschichten des letzten Jahres enttäuscht war, bin ich dieses Jahr wirklich sehr begeistert und möchte euch die Geschichten unbedingt ans Herz legen. Sie lohnen sich bisher alle! Ihr könnt hier eine Linksammlung zu allen veröffentlichten Geschichten aufrufen.

Heute, am 15. Dezember 2020, ist mein eigener Beitrag zum Adventskalender dran. Ich habe eine Kurzgeschichte über zwei Personen geschrieben, die aufgrund der Pandemie nicht wie gewohnt Weihnachten feiern können. Glücklicherweise führt sie jedoch genau dieser Umstand zusammen, denn sonst hätten sie sich vielleicht nie kennengelernt. Ihr könnt die Geschichte hier bei Belletristica lesen, die geschätzte Lesedauer liegt bei 12 min. Ich wünsche viel Spaß!

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Hoffnung

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder (Teenager), Tiere (Wölfe)

„Ich muss gar nichts!“
Wutentbrannt stürmte Luisa aus dem Raum und knallte die Tür so fest hinter sich zu, dass ihre Eltern zusammenzuckten.
„Das war … heftig“, meinte Florian ruhig und sah seine Frau an.
„Heftiger als sonst“, bestätigte Cora und nickte nachdenklich. „Worum ging es eigentlich?“ Sie war nach einem langen Arbeitstag gerade erst zuhause angekommen.
Florian verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Um die Ungerechtigkeit Erwachsener, die sich erdreisten, einen in die Welt zu setzen und dann auch noch verlangen, dass man Aufgaben übernimmt.“
Cora nickte, ging in den Flur, um ihre Jacke aufzuhängen, und kam dann zu ihrem Mann zurück. „Welche Aufgabe wolltest du ihr denn übertragen?“
Nun grinste er. „Die Hausaufgabe.“ Nach einem halb amüsierten, halb frustrierten Seufzen ließ er sich auf einen Stuhl sinken. „Sie meint, es sei ‚total hirnrissig‘, den ‚Scheiß‘ schon am Freitag zu machen, wenn man doch das ganze Wochenende Zeit hätte.“
Er sah erschöpft aus, fand Cora. Wie lange hatten sich ihre beiden Lieblinge wohl schon gestritten? Sie wusste, dass ihr Mann zum aktuellen Zeitpunkt ohnehin recht reizbar war und sich sehr zusammennahm, um das nicht an seiner Familie auszulassen. Bisher hatte Luisa darauf immer Rücksicht genommen. Tja … dann war es wohl soweit.
„Sie kommt in die Pubertät“, sprach sie ihren Gedanken laut aus, während sie hinter Florians Stuhl trat und begann, ihm die Schultern zu massieren.
„Hmmm“, brummte ihr Mann. Es blieb unklar, ob er damit Zustimmung zu ihren Worten oder ihrer Zuwendung ausdrücken wollte.
Schweigend fuhr sie mit den Händen über Florians Schultermuskulatur, drückte an den Stellen, die ihr verhärtet vorkamen, fester zu und genoss das Gefühl seiner Entspannung und die Ablenkung, die ihr diese Tätigkeit bot.
Doch ihr Mann brachte sie wieder zu dem Thema zurück, dem sie seit Jahren aus dem Weg ging. „Ja. Hört sich ganz nach Pubertät an“, beantwortete er endlich ihre Frage. Dann wandte er sich ihr zu, ergriff ihre Hand und zog sie auf seinen Schoß. „Ich weiß, dass dir der Gedanke nicht behagt“, murmelte er und strich ihr zärtlich übers Haar. „Du hättest sie gern ewig als dein kleines Mädchen behalten. Ich auch, glaub mir.“ Er lächelte.
Sie legte ihren Kopf auf seine Schultern und blickte nachdenklich in die Ferne. „Ich … Es könnte sich so vieles verändern.“ Sie schloss die Augen, als sein leises Lachen tief in seiner Brust vibrierte, und genoss das Gefühl seiner Umarmung.
„Es wird sich vieles verändern!“, bestätigte er. „Sie wird anfangen, auszugehen und viel zu spät nach Hause zu kommen.“
Nun stahl sich ein Grinsen auf ihre Lippen. „Höre ich da väterlichen Neid auf künftige Verehrer?“
„Hm. Ein bisschen vielleicht“, gab er schmunzelnd zu. „Aber ich werde gut auf sie aufpassen, wenn wir gemeinsam unterwegs sind.“
Cora hob den Kopf und sah ihm mit ernstem Blick in die Augen. „Ich bin gespannt, ob sie eher nach mir oder eher nach dir kommt.“
Sanft strich er ihr mit einer Hand über die Wange und nickte. Er wusste genau, was sie befürchtete, was sie sich wünschte. Und trotzdem hoffte er darauf, dass seine Tochter die richtigen Gene geerbt und in Vollmondnächten künftig gemeinsam mit ihm in Wolfsgestalt durch die Gegend streifen würde.

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Freunde

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Hunde, Wölfe)

„Ach, das meint sie bestimmt nicht so“, versicherte Tom.
Schon über eine halbe Stunde spazierte er neben seinem Kumpel am Flussufer entlang und hörte zu, wie dieser von einem wirklich unglücklichen Missverständnis mit seiner besten Freundin erzählte.
Auch, wenn die Sache in seinen Augen gar nicht so dramatisch war, freute Tom sich über ihr Gespräch. Er genoss das Vertrauen, das ihm damit entgegengebracht wurde. Und es schien zu helfen, dass er zuhörte, ab und an nickte, zustimmend brummte oder gelegentlich eine Frage stellte. Vielleicht war aber auch nur seine Anwesenheit, sein stiller Beistand vonnöten. Wer wusste das schon?
Die Pausen, die sein Kumpel immer wieder machte, wurden mit jedem Mal länger. Für Tom, der ihn inzwischen gut kannte, ein untrügliches Zeichen, dass das Thema sich dem Ende zuneigte – entweder gab es nichts mehr zu berichten oder im Kopf seines Freundes entstand langsam eine Lösungsidee. Tom war beides recht.
Während er geduldig abwartete, ließ er seinen Blick über die Wiesen schweifen, die diesen Abschnitt des Flussufers säumten. Das gute Wetter hatte zahlreiche Personen nach draußen gelockt. Viele saßen einfach nur da und genossen Wärme und Sonnenstrahlen, andere spielten mit einem Hackysack, Hundebesitzer warfen Bälle oder Stöckchen, ein paar Kinder tollten einem Fußball hinterher und ein eine Handvoll Leute wagte sich mit Kanus oder Stand-Up-Paddle-Boards aufs Wasser. Schweigend genoss er den Anblick.

„Manchmal würde ich das auch gern machen.“
Neugierig drehte er den Kopf und versuchte zu erraten, worum es ging. „Ball spielen?“
Sein Freund verzog schuldbewusst die Miene. „Nein!“ Dann jedoch warf er ihm einen verschwörerischen Seitenblick zu. „Na ja. Vielleicht. Würdest du mitmachen? Das macht man als Erwachsener doch nicht mehr.“
Tom lachte und legte seinem Kumpel einen Arm um die Schultern. „Mann, entspann dich! Klar machen wir das! Und wenn’s dir wichtig ist, gehen wir wohin, wo uns keiner sieht.“
Das begeisterte Aufleuchten in den Augen des anderen freute Tom. Ob sein Freund je lernen würde, dass er nicht immer zuerst darüber nachdenken sollte, ob das, was er tun wollte, gegen die ungeschriebenen Regeln verstieß? Wenn er Spaß daran hatte, mit einem Ball zu spielen oder einem Stöckchen nachzujagen, würde Tom das liebend gerne mit ihm machen, egal, ob sich das für einen erwachsenen Werwolf geziemte oder nicht.

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Zähne

Inhaltsangaben/Content notes: (hohes) Alter, Geburtstagsfeier, Zähne

Mit einem genüsslichen Seufzen lehnte Albrecht sich auf dem bequemen Sofa zurück und schloss die Augen. Nur für einen Moment natürlich – der Höhepunkt des Festes stand immerhin noch bevor!
Seit Wochen hatte er geplant, organisiert, herumtelefoniert und Gespräche geführt. Er hatte dieses Haus mit Grundstück angemietet, eine Cateringfirma mit der Bereitstellung eines Fingerfood-Buffets beauftragt, mit dem örtlichen Getränkehändler um den Preis eines gut gefüllten Kühlwagens gefeilscht und Parkmöglichkeiten für alle Gäste gesucht. Und selbst das Wetter war ihm hold: Keine einzige Wolke stand am Himmel und die Luft war angenehm warm.
Lächelnd ließ der das bisherige Fest Revue passieren. Alle waren gekommen. Nicht nur die, mit denen er ohnehin fest gerechnet hatte, nein, auch die übrigen Verwandten und Freunde hatten es sich nicht nehmen lassen, diesen Tag mit ihm zu verbringen! Er hatte so viele Glückwünsche entgegengenommen, mit den zahlreichen Kindern gespielt und den andächtig lauschenden jungen Leuten auf deren Bitten hin Geschichten erzählt. Er war es nicht mehr gewohnt, derartig im Mittelpunkt zu stehen, doch er genoss es in vollen Zügen. Es war schön, dass man nicht vergessen wurde, nur, weil man alt war und keine eigenen Kinder hatte.

„Na, alter Mann?“ Zärtlicher Spott klang in der Stimme mit. „Du willst doch hoffentlich nicht schlapp machen?“
Albrecht öffnete die Augen und sah Barbara im Türrahmen stehen. Erfreut lächelte er sie an. „Ganz sicher nicht! Wenn du wüsstest, wie lange ich mich schon auf den heutigen Tag freue!“
Mit beschwingten Schritten kam sie näher und setzte sich neben ihn. „Es ist schön, dass du hier bist. Was für ein wundervoller Zufall, dass dein Geburtstag auf eins unserer Treffen fällt!“
Tief berührt strich er ihr mit der Hand über die Wange, wie er es schon so oft getan hatte, als sie noch ganz klein gewesen war. „Ich bin auch froh, dass ich hier bin. Und dass ich immer noch willkommen bin.“
Lachend ergriff sie seine Hand und hielt sie fest. „Natürlich bist du das! Du bist fast so fit wie jeder andere hier!“ Kurz zögerte sie, bevor sie fürsorglich fragte: „Hast du genug gegessen?“
Er grinste, ließ sich auf die Beine ziehen und streckte sich zu voller Größe. „Keine Sorge. Wenn die neue Chefin sagt, ich sei fit, werde ich sie bestimmt nicht enttäuschen!“ Dann drückte er ihre Schulter. „Wie lange noch? Meine alten Knochen sagen, dass es bald soweit ist.“
Barbara nickte und sah auf die Uhr. „Eine Dreiviertelstunde.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Ich geh zu den anderen – die sind zum Teil schon bereit. Oder brauchst du Hilfe?“
Lachend winkte er ab. „So fit wie die anderen, meintest du doch! Ich werde deine Erwartungen nicht enttäuschen!“
Sie grinste und ging zurück in den Garten. Von draußen ertönten die Geräusche von Unterhaltungen und spielenden Kindern, durchmischt mit fröhlichem Bellen und Lachen. Sehnsucht wallte in Albrechts Brust auf. Gleich würde er zu ihnen stoßen. Er beeilte sich, ins Badezimmer zu gelangen.

Dort zog er sich aus vollständig aus und legte seine Kleidung sorgfältig beiseite, bevor er sich im Spiegel betrachtete. Er mochte sein Aussehen, selbst die lange Narbe am linken Oberschenkel, die er längst als Teil seines Körpers akzeptiert hatte. Wenn man die vielen Falten in seinem Gesicht ignorierte, sah man ihm seine 78 Lebensjahre fast nicht an.

Fast. Er lächelte wehmütig, nahm sein Gebiss aus dem Mund und legte es sorgfältig ab.
Wenige Sekunden später machte sich der zahnlose alte Werwolf auf den Weg zu seinem Rudel.

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Verschwörungsmythen

Inhaltsangaben/Content notes: Verschwörungsmythen, Party

Das hier war ganz sicher die schlimmste Party seines Lebens. Warum hatte er nur auf seinen Kumpel Stefan gehört und ihn begleitet? Der saß seit gut einer Stunde mit einem Dauergrinsen an der Bar und unterhielt sich angeregt mit einer Kommilitonin, während er, Peter, irgendwie an einen Tisch geraten war, an dem sich Leute ernsthaft über die schädliche 5G-Strahlung und die zunehmende Macht der Reptiloiden in der Regierung austauschten. Am Anfang hatte er das noch für einen Witz gehalten, doch seit ihm klar war, dass einige Personen das wirklich zu glauben schienen, hatte er jegliches Interesse an dieser Unterhaltung verloren. Wie kam er hier nur wieder weg? Immer wieder versuchte er, Stefans Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, damit der ihm einen Vorwand lieferte, sich aus dem Staub zu machen. Doch sein Kumpel hatte nur Augen für seine Gesprächspartnerin.

Der Mann, der neben ihm auf der Bank saß, stieß ihm leicht den Ellbogen in die Rippen. „Hey, lass mich mal aufstehen. Ich muss mal eben mein Getränk zurückbringen.“
Irritiert sah Peter ihn zum ersten Mal an diesem Abend an. Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, was der Mann von ihm wollte.
„Ach so“, murmelte er hastig und grinste. „Sorry, hab ich nicht gleich kapiert.“ Er verlagerte seine Position, um dem anderen ein wenig mehr Platz zu bieten. Dann nutze er die Fluchtmöglichkeit und stand ebenfalls auf. „Wenn du weißt, wo hier die Toiletten sind, folge ich dir sogar.“

Kaum waren sie außer Hörweite der Leute am Tisch, seufzte Peter erleichtert auf.
„Hat dich der Quatsch auch so genervt?“, fragte sein neuer Gesprächspartner daraufhin und schenkte ihm ein Lächeln. „Ich bin übrigens Ben.“
Automatisch nickte Peter freundlich. „Peter. Freut mich. Und: Ja, hat er. Wie kann man nur so einen Mist glauben?“
Gemeinsam betraten sie den Toilettenbereich und traten an die Urinale.
„Weiß auch nicht“, brummte Ben. „Vielleicht haben sie irgendwie das Gefühl, das was Komisches vor sich geht?“
Peter lachte. „Oder sie haben einfach eine überbordende Fantasie!“
„Glaubst du nicht, dass es geheime Gruppen gibt, die unter uns leben?“
Er grinste. „Meinst du jetzt die Reptiloiden, Illuminaten oder jemand anderen?“
Ben ließ sich Zeit, trat ans Waschbecken und wusch sich die Hände. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck erwiderte er dann: „Hast du noch nie was Seltsames beobachtet?“
Jetzt wurde es tatsächlich interessant. „Tja, vielleicht …“, sagte Peter vieldeutig. „Und du?“
Gemeinsam verließen sie den Toilettenbereich. Ben antwortete nicht sofort, sondern sah sich in alle Richtungen um, als fürchte er, belauscht zu werden. Dann deutete er auf eine einsame Ecke und forderte Peter mit einer Kopfbewegung auf, ihn dorthin zu begleiten.
Kaum waren sie weit genug von allen anderen entfernt, brachen die Worte förmlich aus Ben heraus. „Vielleicht kennst du das ja selbst? Leute, die ganz normal wirken. In deiner Nachbarschaft wohnen, in deinen Vorlesungen sitzen, vielleicht sogar locker mit dir befreundet sind. Nie wirklich sehr eng.“
Peter sah sein Gegenüber irritiert an. „Klar, solche Leute gibt’s ’ne Menge und –“
Mit heftigem Kopfschütteln unterbrach Ben ihn. „Nein, warte. Die Leute sind total normal – außer, dass sie nie, wirklich absolut nie, Zeit haben, wenn Vollmond ist. Egal, was für ein Event da stattfinden soll. Wirklich nie.“ Sein Blick wirkte gehetzt, als er ihn über die Menschenmenge schweifen ließ. „Ist dir so was nie aufgefallen?“
„Nein, nie.“ Peter lächelte beruhigend. „Ich verstehe ja, dass dir solche Zufälle komisch vorkommen. Aber meinst du nicht, dass es dafür auch andere Erklärungen geben könnte?“
„Du glaubst, ich bin wie die da drüben.“ Ben sah zu dem Tisch, an dem die Verschwörungsmystiker saßen und sich immer noch angeregt unterhielten.
Peter schüttelte ernst den Kopf. „Nein. Darum diskutiere ich mit dir ja.“ Dann lächelte er. „Ich hol mir was zu trinken – soll ich dir was mitbringen?“

Bens dankbaren Blick im Rücken begab Peter sich zur Theke. Und während er auf die Bestellung wartete, schickte er eine Nachricht an seinen Leitwolf: „Jemand hat einen von uns im Verdacht. Ich finde raus, wer es ist, dann brauchen wir ein gutes Alibi. Umzug wäre vielleicht angesagt.“
Zuversichtlich steckte er das Telefon wieder in die Hosentasche. Sie würden die Sache schon schaukeln – so wie immer.

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Im Falle eines Falles

Inhaltsangaben/Content notes: Überfall, Werwolf

Meine Güte, war das schon spät! Marcel bekam sofort ein schlechtes Gewissen, als er auf die Uhr sah, und zog noch im Treppenhaus auf dem Weg zur Straße sein Telefon aus der Hosentasche.
„Hi Mama, ich bin’s“, sagte er, als das Gespräch angenommen wurde. „Tut mir echt leid, ich geh erst jetzt los. Wir haben uns irgendwie festgespielt und ich hab total die Uhrzeit vergessen.“ Kurz lauschte er. „Ja, klar, mach ich. Versprochen. Bis später!“
Er lächelte, als er das Telefon zurück in seine Tasche schob. Ob Eltern jemals damit aufhörten, „Pass auf dich auf“ zu sagen, wenn man irgendwo unterwegs war? Vermutlich nicht. Aber irgendwie war das auch schön.

Mit langen Schritten überquerte er das Gelände, auf dem das weitläufige Studentenwohnheim stand, und eilte in Richtung Busbahnhof. Viele seiner Freunde wohnten hier, dicht am Unigelände. Ein wenig beneidete er sie um den kurzen Weg zu den Vorlesungen, zur Bibliothek oder manchen Partys. Aber andererseits würde ihm seine Familie viel zu sehr fehlen, wenn er sie nicht täglich sehen könnte. Und mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauerte die Fahrt zwischen ihrem Ort und der Unistadt auch nur ungefähr 40 Minuten. Das war wirklich verschmerzbar.

Je länger er im Bus saß, desto weiter schweiften seine Gedanken ab, bis er seiner Umgebung gar keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Er verlor sich in Erinnerungen an das Brettspiel, das er vorhin mit einigen Kommilitoninnen gespielt hatte. Es hatte Potenzial zum Süchtigmachen. Ob er es sich auch kaufen sollte? Es war leider nicht gerade günstig …
Er schreckte hoch, als der Busfahrer den Motor abstellte. Die Zeit war wie im Flug vergangen! Außer ihm befand sich nur noch eine Person im Bus, verborgen in einem bequem aussehenden, viel zu großen Hoodie. Seltsam – Marcel erkannte nicht, um wen es sich handelte, und er wurde auch nicht gegrüßt. Dabei gab es nur wenige Leute hier, die er nicht kannte.

Er schenkte der Person keine weitere Beachtung, trat auf die regenfeuchte Straße und machte sich auf den Weg nach Hause. Dunkle Wolken hingen am Himmel. Hoffentlich verlängerte der Regen seine Pause noch ein wenig – einen Schirm hatte er nicht dabei. Sicherheitshalber beschleunigte er seine Schritte und bog in eine der schmalen Gassen ab.
Unvermittelt trat an der nächsten dunklen Hausecke eine Gestalt in seinen Weg. Marcel erkannte sofort die Person aus dem Bus. Noch immer verbarg die Kapuze ihr Gesicht. Hatte der Typ ihn auf der Parallelstraße überholt oder sich verlaufen? Irgendwas war komisch an dieser Sache … Er blieb stehen, schob eine Hand in die Tasche und tippte eine bestimmte Tastenkombination auf seinem Smartphone. Nur sicherheitshalber. Dabei sah er die fremde Gestalt an. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Ein heiseres, verächtliches Lachen ertönte. „Klar. Ich könnte ein bisschen Kohle gebrauchen.“ Mit einem Klacken öffnete sich ein Springmesser in der Hand des Fremden.
Ungläubig starrte Marcel auf die Klinge. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Hatte der Typ sie noch alle? Hier, in seinem Dorf, wurde doch niemand überfallen! Und benutzte man dafür echt Springmesser? War das nicht ein bisschen … Er wusste auch nicht, wie er das fand. Die ganze Situation erschien ihm unglaublich surreal.
„Jetzt rück schon deine Kohle raus, Mann!“ Der Fremde hob das Messer und kam einige Schritte auf Marcel zu. Irgendetwas in der Art, mit der der andere die Waffe hielt, flößte ihm Angst ein. Es lag so viel Selbstverständlichkeit darin. Er schluckte und trat ein wenig zurück.
Darauf hatte der andere wohl nur gewartet. Mit beeindruckender Schnelligkeit überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und schubste Marcel gegen die Hauswand. Der verlor dadurch das Gleichgewicht und stützte sich instinktiv mit den Händen hinter sich ab – die Chance für den Angreifer, ihn direkt mit der Klinge zu bedrohen.
„Dann hol ich mir deine Kohle eben selbst“, murmelte der Typ mit seiner unangenehmen, heiseren Stimme und begann, Marcels Hosentaschen abzutasten.
Ein tiefes, kehliges Knurren ertönte in fast unmittelbarer Nähe. Unwillkürlich grinste Marcel, als er spürte, wie der Angreifer erstarrte. „Du willst jetzt vielleicht lieber gehen“, sagte er in aller Seelenruhe. „Mein großer Bruder kann sonst ganz schön ungemütlich werden.“
Langsam drehte der Typ den Kopf und starrte in die Schatten. Eine riesenhafte, breitschultrige Silhouette bewegte sich in verstohlenen Bewegungen auf die beiden Männer zu. Die Augen reflektierten das schwache Licht, das die alten Straßenlaternen vorne an der Hauptstraße spendeten und das gerade so nicht ausreichte, um Details zu erkennen. Als das Ding ein weiteres Knurren ausstieß, keuchte der Angreifer entsetzt auf, ließ das Messer fallen und rannte davon.
Marcel lachte und sah dem Typen hinterher. „Ich gebe zu, du hattest recht mit dieser Notfall-App. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich sie mal so nah an zuhause brauche.“
Der große Werwolf legte ihm eine Pranke auf die Schulter. „Man weiß nie“, antwortete er. „Lass uns heim gehen. Es ist noch Abendessen da.“

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Spuren

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Hunde, Wölfe, Schakale), totes Tier (bildlich beschrieben), Blut, Wald

Was war das denn? Dort, rechts von ihr, hinter der großen Kurzstieleiche. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie gedankenverloren zu ihrem Auto gelaufen war. Neugierig machte sie kehrt und ging die wenigen Schritte zurück, um nochmals hinsehen zu können.
Von der Eiche aus konnte sie keine Details ausmachen, doch sie war sich sicher, dass dort hinten ein gerissener Kadaver im Wald lag. Der unverkennbare Geruch von Tod stieg ihr in die Nase und die Silhouette, die sie im dämmrigen Licht unter dem dichten Blätterdach des Forsts erkennen konnte, wirkte auf sie wie ein Reh. Sie sah sich einmal aufmerksam um, dann ging sie neugierig auf das tote Tier zu.
Als Jägerin war es nicht nur ihre Aufgabe, den Wildtierbestand durch gezielte Abschüsse zu kontrollieren, sondern auch, über die in ihrem Revier herumstreunenden Raubtiere Bescheid zu wissen. Ironischerweise waren die, die die meisten Schäden verursachten, meist die ach so braven und anständigen Haushunde, die Waldis und Fiffis, die von ihren naiven Besitzerinnen und Besitzern für völlig harmlos gehalten wurden. Ja, das Tier war weggelaufen, aber nein, niemals würde der tierische Freund irgendwem etwas zu Leide tun!
In der Stadt mochte das vielleicht sogar stimmen. Doch hier, tief im Forst, wurde allzu leicht der Jagdinstinkt der Hunde geweckt. Eine Situation, die die meisten Menschen nie mit ihren Haustieren erlebt hatten.

Schon aus wenigen Metern Entfernung erkannte sie, was genau sie dort vor sich hatte: ein weibliches Reh, eine Ricke. Bedauern über den Tod des schönen Tiers stieg in ihr auf: Wenn man vom aufgerissenen Bauch absah, wirkte es mit seiner kräftigen Statur und dem glänzenden Fell vollkommen gesund. Eine Schande, dass es hatte sterben müssen.
Verblüfft hielt sie inne, als sie ganz herangekommen war. Entgegen ihrer Vermutung war dieser Tod sicherlich nicht das Werk eines herumstreunenden Hundes. Beine und Flanken, die Hauptziele von hetzenden Hunden, waren kaum verletzt. Der Jäger, der dieses Tier gerissen hatte, hatte einen sauberen Kehlbiss angesetzt und die Ricke damit erstickt.
Das war definitiv kein Hundeverhalten. Nachdenklich starrte sie auf die Halswunde. In deutschen Wäldern gab es eigentlich nur drei Jäger, die so töteten: Luchse, Goldschakale und Wölfe. Ein Luchs konnte es aber nicht sein, der hätte seine Beute in einen Baum hinaufgezogen, um sie für sich alleine zu haben.
Goldschakal oder Wolf … Beides war ihr hier nicht bekannt.
Aufgeregt zuckte sie mit den Ohren und beugte die Nase tief über den Boden, um die Fährte des Tieres aufzunehmen. Dabei entdeckte sie einen Pfotenabdruck im weichen Waldboden.
Ein klein wenig war sie enttäuscht, als sie die Spur des Goldschakals erkannte. Andere Wölfe wären eine schöne Überraschung gewesen! Dennoch würde ihr Werwolfrudel sich freuen, wenn sie beim nächsten Vollmond den neuen Waldbewohner kennenlernen könnten. Wo mochte er wohl stecken? Hatte er einen festen Schlafplatz? Sie beschloss, ihre Rückfahrt in die Stadt und die damit verbundene Verwandlung noch ein wenig aufzuschieben und der Spur des Schakals noch ein wenig zu folgen.

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