Ein besonderes Geschenk

Inhaltsangaben/Content notes: Tod (erwähnt), Weihnachten

„Sie kommen über den Hügel!“
„Scheiße, sie sind gleich durch!“
„Wo denn?“
„Am Hauptquartier! Ich brauch hier Unterstützung!“
„Warte, ich komme!“
„Ich auch – die packen wir!“
Obwohl die ganze Unterhaltung im spieleeigenen Sprachchat stattfand, war das Adrenalin, das durch die Adern der vier Teammitglieder strömte, förmlich zu spüren. Yannis beeilte sich, zu seinen Kampfgefährten zu stoßen und ihre Flagge zu verteidigen – nur noch eine Minute und zweiunddreißig Sekunden mussten sie durchhalten! Ob seine Munition ausreichen würde?
Eineinhalb Minuten später brandete der Jubel im Sprachkanal auf, so laut, dass seine Kopfhörer und sein Mikrofon die Lautstärke automatisch herunterregelten.
„Leute, wir sind so gut!“, lobte Yannis seine Kameraden.
„Ja, voll das fantastische Team!“, stimmte Paul zu.
Yannis lächelte, als er seine Stimme hörte. Er und Paul hatten miteinander studiert und waren seit Jahren beste Freunde. Die anderen beiden kannte er nicht persönlich. Jan war ein Arbeitskollege von Paul, und Stefan hatten sie in einem Forum aufgegabelt, in dem sie noch nach Mitspielern gesucht hatten.
„Wie sieht’s die nächsten Sonntage aus?“, fragte Yannis gut gelaunt. „Wollen wir unsere Platzierung auf dem deutschen Server ausbauen?“
„Nächste Woche passt bei mir“, antwortete Paul.
„Nee, bei mir nicht. Meine Family will Plätzchen backen und so Zeug“, lehnte Stefan ab. „Ich kann bis Januar wahrscheinlich gar nicht mehr.“

Na wunderbar. Yannis‘ Laune sank sofort in den Keller. Diese beschissene Weihnachtszeit! Man konnte sich ihr einfach nicht entziehen!
Er ließ die kurze Verabschiedung über sich ergehen und fuhr seinen Computer herunter. Ihm war die Lust auf Spielen vergangen. Außerdem war es ohnehin schon spät – er sollte ins Bett, damit er morgen für die Arbeit fit war! Der Gedanke hob seine Stimmung wieder beträchtlich.

Lächelnd ging er ins Badezimmer, um sich bettfertig zu machen.
Er mochte seinen Job, und er bot eine hervorragende Gelegenheit, sich auch im Dezember mit anderen Dingen als der Weihnachtszeit zu beschäftigen. Immer noch staunte er, welche Zufälle zusammengekommen waren, die ihn letztendlich in diese Firma gebracht hatten!
Yannis hatte Bioinformatik studiert. Die Verbindung von Biologie und Informatik, Leben und Logik, hatte ihn unglaublich fasziniert, und als er nach Ende seines Masterstudiengangs eine Doktorandenstelle an einem Hörforschungsinstitut in der nächstgrößeren Stadt gefunden hatte, war sein Leben perfekt gewesen!
Und dann, nur wenige Monate vor dem Ende seiner Doktorandenzeit, waren seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Damit war seine ganze Welt ins Wanken geraten.
Die Kollegen und Freunde hatten alles getan, um ihm zu helfen, ihn aufzufangen, und er hatte es auch geschafft, seine Dissertation einzureichen und die Prüfung zu bestehen. Dennoch war ihm in jedem Moment, in dem ihn jemand mit diesem Mitleid im Blick ansah, klar, dass er hier wegmusste. Er ertrug es einfach nicht mehr.
Und dann kannte Paul da jemanden, dessen Freunde eine Firma gründeten und Mitarbeiter suchten. Die Idee, die hinter dem Unternehmen steckte, gefiel Yannis sehr: Es ging um die Datenerhebung, -auswertung und Maßnahmenautomatisierung in der Landwirtschaft. Er als Bioinformatiker passte hervorragend ins Firmenprofil, seine Dissertation, die sich bereits mit Datenanalyse und automatisierten Auswertungen befasst hatte, konnte wertvollen Input liefern, und die Firma war in einer über 200 km entfernten Stadt, wo ihn niemand kannte.
Schon das Gebäude, in dem die Firma Räume bezogen hatte, begeisterte Yannis am Tag des Vorstellungsgesprächs. Es war auf Start-ups ausgelegt, bot Co-Working-Space und Entspannungsecken, war begrünt und sah modern und einladend aus. Und dann erst die Leute! Er hatte seine neuen Kollegen sofort gemocht, und zwar alle fünf. Sobald klar war, dass er mit ihnen auf einer Wellenlänge war, bekam er ein Einstellungsangebot, und nur drei Tage später war er auf Wohnungssuche.
Seitdem freute er sich jeden Tag auf die Arbeit. Es war herausfordernd und anstrengend, in einem Start-up zu arbeiten, doch es war auch erfüllend, zu sehen, wie sie ihrem Ziel immer näher kamen. Außerdem war es wahrhaftig ein neues Leben für ihn – etwas, das er dringend nötig hatte.


Heute Abend sollte es bei Yannis Burger geben. Direkt nach der Arbeit steuerte er daher den nächstgrößeren Supermarkt an, um Fleisch von der Theke zu kaufen. Alex hatte ihn heute in der Pause auf die Idee gebracht, da sie ihm von ihrem Versuch, vegane Burgerpatties zu machen, berichtet hatte.
„Manchmal ist es ganz schön anstrengend, wenn einige deine Freunde Veganer sind“, hatte sie ihm lachend erklärt. „Aber ich bin ja offen für Neues – und stell dir vor, ich mag diese Quinoa-Patties noch lieber als die aus Hackfleisch!“ Sie holte noch ein Bruchstück aus ihrer Dose und schob es sich genüsslich in den Mund, bevor sie ihm die Dose anbot.
„Willst du ein Stück probieren? Sie sind nicht sehr stabil, aber wirklich lecker!“ Mit einem Grinsen fügte sie an: „Ich habe mich trotzdem nicht getraut, die Bruchstücke zu servieren.“
Dann hatte sie mit der für sie typischen Ausführlichkeit über die übrigen Zutaten berichtet, die sie für ihren „Burger-Bausatz“, wie sie es nannte, zusammengestellt hatte, sodass jeder ihrer Gäste sich seinen oder ihren Traumburger zusammenstellen konnte.
Yannis war das Wasser im Mund zusammengelaufen. Die Quinoa-Patties waren zwar gut, aber er träumte jetzt von einem richtig saftigen Rindfleischburger – den wollte er sich heute Abend gönnen!

Er war keine fünf Schritte tief im Laden, als er es hörte: Last Christmas von Wham! Dieser Song wurde derartig oft gespielt, dass er ihn auch ohne seine Abneigung gegen Weihnachten nicht mehr hören konnte!
Für einen Augenblick erwog er, den Laden direkt wieder zu verlassen, doch er hatte die Einlasssperren bereits passiert. Na ja. So lange würde der Einkauf nicht dauern.

In der Warteschlange zur Kasse starrte er mal wieder fassungslos aufs Weihnachtsregal, das unübersehbar dort aufgebaut worden war, wo die Leute ohnehin nur langsam vorankamen. Lebkuchen, Spekulatius, gefüllte Lebkuchenherzen … und die Dominosteine waren sogar bereits ausverkauft. Es gab sogar noch zwei deutlich im Preis reduzierte Adventskalender … am neunten Dezember! Wer kaufte die jetzt noch?
Wer kaufte jetzt überhaupt noch dieses Weihnachtszeug? Seit September stand es in den Läden! September! Mussten die ganzen Schokoladensachen inzwischen nicht beinahe abgelaufen sein?

Yannis atmete tief durch und konzentrierte sich auf seinen Einkauf. Der Dezember war nicht mehr lang – er würde ihn schon irgendwie hinter sich bringen.


Während das Fleisch in der Pfanne langsam vor sich hin briet, sah Yannis zum Fenster seiner Wohnung hinaus. Sie lag im sechsten Stock, sodass er einige Straßen weit sehen konnte.
In den meisten Gärten und Fenstern hing bereits Weihnachtsdekoration. Lichterketten im vertrauten Warmweiß, einige beleuchtete Drahtfiguren und die unvermeidlichen bunten Blinklichter, die er persönlich nicht besonders mochte, aber dennoch mit Weihnachtsbeleuchtung assoziierte.
Seine Eltern hatten das Haus auch immer festlich geschmückt.
Er schluckte. In seiner Wohnung deutete überhaupt nichts auf Weihnachten hin. Aber das war Absicht – er wollte das Fest nicht feiern. Er wollte nicht einmal daran denken. Denn Weihnachten war für ihn so untrennbar mit seinen Eltern verbunden, dass die Tage ohne sie vollkommen sinnlos erschienen.

Das Klicken des Toasters zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er wandte sich wieder dem Essen zu, erleichtert, etwas zu tun zu haben, das ihn von seinen trübsinnigen Gedanken ablenkte. Er wendete das Fleisch, das er zu zwei flachen Patties geformt hatte, belegte die frisch aufgewärmten Brötchen mit Salat und anderen Dingen, die seiner Ansicht nach auf einen guten Burger gehörten, und stellte sich zwei davon zusammen – einen für heute Abend, einen für morgen Mittag.
Mal sehen, was Alex sagen würde, wenn sie erkannte, wie sehr sie ihn inspiriert hatte!


„Ok. Dann wäre das geklärt.“ Andreas streckte sich und seufzte. „Leute, lasst uns eine Pause einlegen!“
„Ja, eine Runde Tischkicker! Wer macht mit?“ Alex war bereits aufgesprungen und rieb sich voll Vorfreude die Hände.
Yannis grinste. Die beiden Firmengründer könnten nicht verschiedener sein – neben Alex‘ Quirligkeit bot Andreas‘ fast schon stoische Ruhe oft echte Erholung. Wiederum andererseits holte Alex‘ Bereitschaft, Neues auszuprobieren, Andreas oft aus seiner Komfortzone. Diese Ergänzung brachte die Firma wirklich gut voran.
Arif hatte sofort auf Alex‘ Aufforderung reagiert und stand ebenfalls bereits an der Tür. „Auf, Leute, nicht so faul!“
Yannis warf Stephan und Christine ein gespielt verzweifeltes Gesicht zu und folgte den anderen in den Nebenraum.

Arif war im Tischfußball kaum zu schlagen. Zuerst biss Alex sich die Zähne an ihm aus, dann Christine, die dabei wie immer laut fluchte und so kreativ schimpfte, dass alle lachen mussten.
Während Yannis gerade erfolglos versuchte, Arif wenigstens ein einziges Tor zu verpassen, kam Stephan mit sechs Tassen und einer Kanne Tee herein, die er an die übrigen verteilte.
„Wie sieht’s eigentlich mit deinen Weihnachtsvorbereitungen aus?“, fragte Andreas, als er von Stephan eine Tasse entgegennahm.
Yannis verkrampfte sich bei dem Thema und kassierte sofort ein Tor von Arif.
„Oh, gut!“, lachte Stephan fröhlich. „Ich bin so gut wie fertig. Nur beim Lichterkettenaufhängen könnte ich noch Hilfe brauchen, das macht’s einfacher.“ Er klopfte auf seinen Rollstuhl.
„Pffff, das ist ja kein Problem, jederzeit! Was machst du denn jetzt über die Feiertage, Christine?“ Alex hatte Andreas das Gespräch sehr schnell aus der Hand genommen, was den aber nicht störte.
„Wir haben eine nette Ferienwohnung an der Ostsee gefunden“, berichtete Christine grinsend. „Da haben wir ganz sicher unsere Ruhe. Meine Eltern werden wieder den halben Hausstand an Brettspielen mitbringen, das wird super!“
Und dann geschah, was Yannis befürchtet hatte. Alex‘ unsägliche Neugier richtete sich auf ihn. „Und du, Yannis?“
„Nichts“, blaffte er unfreundlicher, als er es beabsichtigt hatte. „Frag nicht.“ Frustriert knallte er den Ball mit voller Wucht ungezielt in Arifs Hälfte hinüber.
Tor!
Doch die Befriedigung, die er wegen seines Treffers verspürte, löste sich gleich wieder in Luft auf, als er vom Kickertisch aufsah.
Arif hatte die Hände von den Griffen genommen und sah ihn prüfend an. Auch die anderen schauten alle in seine Richtung.
Die Blicke verursachten ihm Unbehagen. „Was ist?“, fragte Yannis möglichst leichthin.
„Ja, das würden wir auch gerne wissen“, ergriff Alex das Wort. „Du fährst doch sonst nie so aus der Haut. Haben wir was falsch gemacht?“

Die verunsicherten und betroffenen Blicke der anderen trieben Yannis die Schamesröte ins Gesicht. Er war wirklich nicht er selbst, wenn es um dieses Thema ging.
„Tut mir leid“, sagte er kleinlaut und schluckte. „Ich hasse Weihnachten einfach. Am liebsten würde ich mich bis über beide Ohren in Arbeit verstecken, bis die ganze Scheißdeko wieder weggeräumt wurde“, gestand er leise. Kraftlos stützte er sich auf den Kickertisch, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und starrte auf die regungslosen Männchen hinunter.
Eine Hand legte sich auf seinen Unterarm. „Warum?“, fragte Stephan, der fast lautlos neben ihm aufgetaucht war. „Bist du etwa ganz alleine?“
Yannis schluckte, konnte aber nicht antworten. Eigentlich wollte er auch nicht.
„Komm doch einfach zu mir“, schlug Stephan vor.
Ein bitteres Auflachen entrang sich Yannis Kehle. „Klar doch. Ich will dir doch nicht auf die Nerven gehen. Du hast ja offenbar längst was vor.“

„Hey, Yannis“, ertönte Alex‘ sanfte, aber dennoch ermahnende Stimme. „Vielleicht solltest du besser fragen, was genau er vorhat, bevor du einfach ablehnst.“
„Genau“, stimmte Arif zu.
„Wir würden uns freuen, wenn du auch vorbeikommst“, ergänzte Andreas. „Wir wären nämlich alle alleine, darum treffen wir uns bei Stephan.“
Überrascht hob Yannis endlich den Blick und begegnete dem der anderen. „Warum wärt ihr alle alleine?“, fragte er verblüfft. Für ihn war es immer so völlig selbstverständlich gewesen, Weihnachten mit seiner Familie zu verbringen, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht hatte, ob das auch für andere galt.
Arif lachte. „Also, meine Eltern fahren über die Feiertage in die Türkei und treffen alte Freunde. Da muss ich echt nicht unbedingt dabei sein!“
„In meiner Familie wurde noch nie Weihnachten gefeiert“, erklärte Andreas. „Da fangen wir jetzt auch nicht mehr damit an.“
„Wie bei uns“, stimmte Christine ein. „Wir treffen uns nicht zum Weihnachtenfeiern, sondern für einen Familienurlaub.“
„Und ich hab keine Lust“, sagte Stephan. „Meine Eltern, meine Schwester und ich sind zu meiner Tante eingeladen. Aber die wohnt in einem Hochhaus, das alles andere als barrierefrei ist – und ich hab keine Lust, die ganzen Feiertage über von den anderen abzuhängen.“ Dann zog er einen Mundwinkel hoch und schnaubte verächtlich. „Es ist ganz nebenbei auch noch eine tolle Ausrede: Ich kann die Frau eh nicht leiden. Aber meine Eltern wollten nicht schon wieder absagen, und irgendwann haben sie mir endlich geglaubt, dass es für mich ok ist, wenn sie dieses Jahr ohne mich feiern.“
„Und ich versteh mich nicht mehr mit meinen Eltern“, sagte Alex tonlos. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.
„Ich hab die anderen schon vor Monaten eingeladen“, sagte Stephan und drückte Yannis‘ Arm. „Da warst du noch gar nicht hier. Aber ich würde mich echt freuen, wenn du auch kommst.“

Die Situation überforderte Yannis. Er blinzelte und schluckte, um die Tränen zurückzuhalten, dann lächelte er. Es war eine schöne Idee, so viel besser als alleine zuhause Computerzuspielen.
Er nickte wortlos und biss sich auf die Lippen.
„Super, dann wäre das ja geklärt“, sagte Alex. „Wir gehen dann schon mal wieder an die Arbeit, nicht wahr, Leute?“ Sie scheuchte alle bis auf Yannis aus dem Raum, drückte ihm sanft die Schulter und schloss die Tür von außen.

Zitternd atmete Yannis ein und wieder aus, wartete einige Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte. Das Angebot war so überraschend gekommen, und die Einsamkeit, die er die ganze Zeit empfunden hatte, war so plötzlich von diesem Gemeinschaftsgefühl ersetzt worden – er wusste gar nicht, wie er damit umgehen sollte. Die Aussicht auf Heiligabend war mit einem Mal so viel leichter geworden, dass er sich emotional völlig erschöpft einige weitere Minuten Pause gönnte, bevor er ins Büro zurückkehrte und wieder an die Arbeit ging.
Niemand sprach ihn an diesem Tag noch einmal darauf an. Man ließ ihm Zeit.
Er liebte diese Leute einfach.


In den darauffolgenden Tagen wurde immer mal wieder kurz über Heiligabend gesprochen. Je mehr er über die Pläne erfuhr, desto klarer wurde Yannis, dass es sich nicht nur um ein zwangloses Beisammensitzen handeln würde – die anderen hatten untereinander ausgemacht, wer was mitbringen würde, und wie es sich anhörte, würde das eine richtige Feier werden!
Wenn es wirklich eine Weihnachtsfeier war – brachte man dann nicht eigentlich auch Geschenke mit?
Diese Frage beschäftigte ihn bald seine ganze Freizeit über. Weihnachtsgeschenke waren üblich. Außerdem würde er den anderen gerne seine Wertschätzung ausdrücken – sie hatten ihn, ohne es zu wissen, in einer wirklich schwierigen Phase seines Lebens so vorbehaltlos und offen willkommen geheißen, waren inzwischen alle mehr Freunde als Arbeitskollegen. Er wollte es richtig machen – jedem etwas schenken, das individuell zu der Person passte!
Was sollte er nur auswählen?


Der Samstag vor dem dritten Advent. Unglaublich, wie viele Leute an diesem Tag einkaufen gingen!
Yannis schob sich durch Menschenmassen, besah sich Auslagen und durchwühlte Angebotsartikel. Er hatte sich lange überlegt, was er suchen könnte, doch er war sich immer noch nicht ganz sicher.
Alex würde sich sicherlich über Kosmetik oder Schminksachen freuen. Sie liebte dieses Zeug und nutzte es kiloweise – aber es gab viel zu viel Auswahl, als dass er sich sicher sein konnte, was sie mochte oder wirklich brauchen konnte. Auch ein Gespräch mit einer Beraterin brachte ihn kein Stück weiter.
Andreas war ein Pragmatiker. Egal, was Yannis besorgen würde, es musste praktisch sein. Andreas fuhr täglich mit dem Rad zur Arbeit – vielleicht würde er in der Sportabteilung fündig werden? Doch auch hier überforderte ihn die schiere Anzahl der Möglichkeiten, und er floh nach einer halben Stunde aus der hoffnungslos überrannten Abteilung.
Arif war ein Bastler. Er lötete furchtbar gerne an seinem Arduino herum – für ihn wäre wahrscheinlich eine Handvoll Kabel optimal! Aber das war so banal, dass Yannis auch diese Entscheidung auf später verschob.
Und Stephan? Er war nicht nur ein Freund, sondern auch der Gastgeber. Dem brachte man in der Regel etwas Besonderes mit. Aber was? Er las gern, das wusste Yannis, vor allem spannende Krimis und Thriller. Aber was hatte er schon und was nicht?

Nach vier Stunden Quälerei im Kaufhaus kehrte er fürchterlich gestresst, aber ohne ein einziges Geschenk gekauft zu haben, wieder nachhause zurück. Er beschloss, noch ein wenig mehr darüber nachzudenken, bevor er sich am nächsten Samstag erneut ins Chaos wagte. Für heute hatte er genug – er würde noch eine Weile Computerspielen.

Im Sprachchat unterhielt er sich eine Weile mit Paul, während sie eine entspannte Runde Diablo spielten.
„Meine Kollegen haben mich an Heiligabend zum Essen eingeladen“, erwähnte Yannis nach einer Weile.
Verdutztes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann: „Echt?“
Yannis musste Paul nicht sehen, um die Freude in seinen Worten zu erkennen. „Ja. Überrascht dich das?“
Paul lachte. „Die Einladung nicht, aber dass du hingehen willst!“
Yannis schnaubte. „Woher willst du wissen, dass ich das mache?“
„Ach komm schon – ich kenn dich doch!“ Jetzt war das Grinsen unüberhörbar. „Das hast du längst beschlossen!“ Dann wurde Pauls Stimme erst, obwohl immer noch ein Lächeln darin mitschwang. „Ich freu mich, ehrlich. Ich hatte befürchtet, du verkriechst dich einsam zuhause.“
Yannis wusste nicht, was er antworten sollte. Paul hatte sich Sorgen um ihn gemacht? War die gute Laune, die er immer an den Tag legte, nur Fassade gewesen, um Yannis aufzumuntern und ihn von seinen Sorgen abzulenken? So musste es sein …
„Danke“, erwiderte Yannis leise. Dann wechselte er rasch das Thema. „Weißt du, wann die neue Season anfängt? Ich glaube, wir haben hier langsam echt alle Sets gefunden …“


Es war zum Verrücktwerden! Die ganze Woche über hatte er nachgedacht und sich mit den anderen möglichst unauffällig über ihre Hobbys und die kommende Feier unterhalten. Trotz allem war ihm einfach nichts eingefallen, das seinen Ansprüchen an ein Weihnachtsgeschenk auch nur nahekam! Und hier, in einem der größten Kaufhäuser der Stadt, inmitten der vielen redenden, rufenden, lachenden, schimpfenden Menschen, dem Gepiepse von Kassen, Geraschel von Verpackungen, Quietschen der Rolltreppen und der konstanten Untermalung durch wahllose Weihnachtsmusik, konnte er einfach auch keinen klaren Gedanken mehr fassen! Nur noch drei Tage!

Entnervt verließ er die Rolltreppe in einem Stockwerk, das nicht ganz so überlaufen war, und schlug sich in die hinterste Ecke durch, um ein wenig Ruhe zu finden.
Büromaterialien. Kein Wunder, dass hier kaum jemand unterwegs war.
Die relative Stille half ihm, wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er atmete tief durch und konzentrierte sich: Er musste das Problem jetzt endlich lösen, wenn er irgendetwas Vernünftiges besorgen wollte!
Das Einzige, das ihm bisher brauchbar vorkam, war, den anderen Gutscheine für ihre Lieblingssachen zu besorgen. Doch das war zwar pragmatisch, verfehlte aber genau den Kern dessen, was er eigentlich beabsichtigte: Es war weder persönlich noch drückte es seine Wertschätzung aus.

Ein Mann, eine Frau und ein Kind kamen an ihm vorbei. Sie lachten, und der Vater strich dem Kind liebevoll übers Haar.
„Aber du musst vorsichtig damit sein“, ermahnte er es sanft.
„Bin ich ganz bestimmt! Ich werde es machen wie Mama“, antworte das Kind begeistert und sprang mit leuchtenden Augen vor, um die Vitrine mit den qualitativ hochwertigen Füllfederhaltern zu bestaunen.
Unvermittelt wurden Yannis‘ Augen feucht. Die Aussicht, mit den anderen Heiligabend zu verbringen, hatte ihn so wunderbar abgelenkt, doch dieser Anblick brachte die ganze Trauer über den Verlust seiner Eltern wieder zurück.
Eilig ging er ein paar Gänge weiter, wo niemand ihn sehen würde. Er war ein erwachsener Mann, es war ihm peinlich, dass er über fünf Monate nach dem Tod seiner Eltern immer noch Gefahr lief, in der Öffentlichkeit deswegen zu weinen. Hastig blinzelte er die Feuchtigkeit aus den Augen.
Er stand vor einer Auswahl von Papieren. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, tat er so, als würde er die Auslage betrachten, während er wartete, bis er sich wieder vollständig beruhigt hatte.
Und dann sah er es.
Schönes, cremeweißes Briefpapier. Die letzte Packung.
Ungläubig ließ er seine Fingerspitzen über die Plastikbox gleiten, in der die Bögen und dazugehörigen Umschläge präsentiert wurden. Seine Mutter hatte immer gerne Briefe und Karten geschrieben, viel lieber als E-Mails oder Textnachrichten. Sie hatte Yannis auch seinen ersten Füller besorgt, genau, wie die Eltern, die er gerade beobachtet hatte. „Es gibt nichts Persönlicheres als einen richtigen Brief“, flüsterte er und wiederholte damit, was sie stets lächelnd gesagt hatte, wenn er sie mal wieder damit aufzog, wie lange sie für das Schreiben benötigte. „Diese Zeit bringt man nur für wichtige Menschen auf.“
Durch die Tränen, die ihm plötzlich über die Wangen liefen, lächelte Yannis. Er wusste, was seinen Kollegen und Paul schenken würde.


„Ich glaube, ich platze!“ Stephan stöhnte und schob den Teller demonstrativ von sich. „Was war das eigentlich, Arif?“
Der Angesprochene grinste. „Salzkrustenbraten – ich hab das Fleisch extra beim Metzger bestellt. Und das andere waren …“ Er holte rasch sein Smartphone aus der Tasche und sah nach. „Herzoginkartoffeln und eine hochwertige Gemüsekomposition aus Prinzessbohnen, Babymöhren, Champignons, Mais und Romanesco.“
„Das war ein Fertigmix?“ Yannis staunte nicht schlecht – es hatte ihm ausgezeichnet geschmeckt.
Arif verdrehte grinsend die Augen und steckte das Telefon wieder in die Tasche. „Ey, ich und kochen … wenn du wüsstest, wie viel Arbeit ich mir gemacht habe, damit das hier überhaupt was wird! Das mach ich nur für euch!“
„Ein hervorragendes Stichwort!“ Alle Augen wandten sich Andreas zu. „Da du, Stephan, uns den Ort zur Verfügung gestellt hast und du, Arif, dich ums Essen gekümmert hast, haben Alex und ich uns auch Gedanken gemacht!“
Alex sprang auf und holte eine Tüte aus dem Flur, während Andreas weitersprach. „Wir sind wahnsinnig froh, dass wir euch haben. Ohne euch würde das Ganze nicht so laufen, wie es das tut. Ihr seid ein Superteam. Danke dafür!“
Alex drückte jedem eine Schachtel in die Hand. „Na los, aufmachen!“ Sie hüpfte vor Aufregung auf und ab, was alle lachen ließ, bevor sie ihrer Aufforderung nachkamen.
„Ich hab eine Freundin, die ist Grafikdesignerin“, plapperte Alex aufgeregt weiter, „Der hab ich Fotos von euch geschickt – ich hoffe, es gefällt euch!!!“
Und wie es das tat! Yannis, Stephan und Arif bestaunten die Tassen, auf denen sie alle in Superheldenkleidung als Comicfiguren dargestellt waren.
„Die sind genial!“ – „Wirklich!“ – „Und so gut getroffen!“
Alex strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als die anderen die Idee lobten, und auch Andreas war offenkundig wirklich stolz und zufrieden.

„Ich hab euch auch was mitgebracht“, sagte Yannis, und es kehrte wieder Ruhe ein. „Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen.“
„Hey, das wäre nicht nötig gewesen“, sagte Alex lächelnd. „Du wusstest ja von nichts –“
„Trotzdem“, unterbrach Yannis sie und hob die Hand. „Das ist mir wichtig.“ Er räusperte sich. „Wisst ihr … ihr wisst gar nicht, wie froh ich bin, euch zu haben. Nein, lass mich ausreden, Alex – das fällt mir so schon schwer genug!“ Er hatte ihnen nie erzählt, warum er hier war, und das wollte er nun endlich nachholen. Er bat Alex mit einem Lächeln um Verzeihung, atmete tief durch und sprach weiter.
„Vor einem halben Jahr hatten meine Eltern einen tödlichen Autounfall. Meine ganze Welt war plötzlich aus den Fugen geraten. Ich bin förmlich weggelaufen vor all dem, was mich überall andauernd an sie erinnert hat, und dass ihr jemanden für diesen Job hier gesucht hattet, war wie ein Wink des Schicksals. Erst dachte ich, es wäre einfach nur eine tolle Gelegenheit, irgendwo Fuß zu fassen – aber ich mag euch viel mehr, als ich gedacht hätte. Für mich seid ihr viel mehr Freunde als Kollegen. Ihr seid super.“ Er grinste und prostete ihnen mit der leeren Superteam-Tasse zu. „Damit ihr wisst, wie super ihr seid, hab ich es euch aufgeschrieben. Ich dachte, ein bisschen Lob zu Weihnachten kann nicht schaden.“ Er griff unter den Tisch, zog seinen Rucksack hervor, entnahm ihm die Briefe und verteilte sie. „Lest sie vielleicht besser erst zuhause, das wird jetzt sonst ein bisschen gefühlsduselig“, murmelte er leicht verlegen.

Weiter kam er nicht, weil er sich in einer erdrückenden Gruppenumarmung wiederfand. Doch er beschwerte sich nicht, sondern schloss die Augen und genoss es einfach. Und vor seinen Freunden schämte er sich für die Freudentränen, die ihm dabei entkamen, überhaupt nicht.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , | Schreib einen Kommentar

Sturm

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), verletztes Tier, Sturm, Wald

Eng schmiegte sich das Rudel an einen schützenden Erdwall. Die Bäume in ihrer Umgebung wurden von heftigen Sturmböen gebogen und geschüttelt, Blätter und Zweige fielen immer wieder auf die Wölfe hinunter und erzeugten dabei so manches erschreckte Winseln oder Aufheulen. Die Tiere mussten die Augen gegen Wind und herumgewirbelten Schmutz zu Schlitzen verengen, um überhaupt noch etwas erkennen zu können, ohne das Augenlicht zu verlieren.
Die Leitwölfin wusste, dass das sie nicht hierbleiben konnten. Wir brauchen Schutz. Einen Unterschlupf. Im Wald ist es gefährlich.
Doch wohin sollte sie sich wenden? Sie kannte keine Höhle in diesem Teil des Forsts und ein Gebäude, in dem sie sich unterstellen könnten, gab es nur in der Nähe der Menschen. Es war unklug, dorthin zu gehen. Jemand könnte sie beobachten.
Die Windböen wurden noch stärker. Inzwischen brachen ganze Äste von den geschwächten Bäumen, die im Sommer unter dem Regenmangel gelitten hatten. Der Klimawandel machte auch vor diesem Wald, in dem so herrlich wenige Menschen unterwegs waren, nicht halt.
Wir müssen näher ans Dorf, beschloss die Leitwölfin. Sie würde das Rudel dorthin führen. Langsam machte sie sich auf den Weg, hielt sich dabei stets möglichst nah am Boden, um den Wind nicht direkt abzubekommen. Die anderen Rudelmitglieder folgten ihr.
Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ die Tiere zusammenzucken. Warum der Baum in ihrer Nähe fiel, war nicht ersichtlich, doch er tat es – und ein gequältes Jaulen bewies, dass er dabei jemanden verletzte.
So schnell ihre Pfoten sie trugen, eilte die Leitwölfin zur Unglücksstelle. Was sie sah, erfüllte sie mit Erleichterung und Sorge zugleich.
Er liegt nicht unter dem Stamm. Aber ein Ast klemmt ihn ein.
Einer der jüngeren Wölfe winselte verzweifelt und versucht, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, obwohl seine Position verriet, dass er sich mindestens einen Knochen gebrochen hatte. Drei andere Rudelmitglieder waren eifrig dabei, ihn freizugraben, doch sie trafen nach wenigen Zentimetern auf Fels. So kamen sie nicht weiter.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit stieg in der Leitwölfin auf. Der Sturm warf ihr Laub und Tannennadeln ins Gesicht, die ersten Regentropfen fielen, und jemand aus ihrem Rudel war verletzt. Sie musste das Risiko eingehen.
Sie suchte Augenkontakt zu ihrem Stellvertreter, wies ihn mit einer Kopfbewegung an, hierzubleiben.
Ich hole Hilfe, dachte sie und war erleichtert, als er ihre Gestik richtig zu deuten schien. Sie verlor keine weitere Zeit, sondern eilte los, durch Wind und Wetter, dem Dorf entgegen.
Sie liebte ihr Rudel. Jeden einzelnen Wolf. Und auch, wenn manche behaupteten, es seien nur diese Individuen, die wirklich zählen sollten, liebte sie genauso sehr auch den anderen Teil des Rudels: Ihre menschlichen Verwandten. Sie würden ihnen nun helfen, ganz sicher. Das war der Vorteil des Werwolfdaseins: Man war nie allein.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Prioritäten

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder, Krankheit (starke Allergie), Tiere (Hunde, Wölfe)

„Es ist wichtig, dass du die Medizin immer zum Frühstück und zum Abendessen nimmst, verstehst du? Immer einmal morgens, einmal abends. Die Tabletten brauchen zu Essen, damit sie stark sind und dir gut helfen können!“
Niklas nickte eifrig und hielt den kleinen Blister, den die nette Kinderärztin ihm gegeben hatte, so behutsam in den Händen, als sei es ein kostbarer Schatz. Er strahlte seinen Vater an und in diesem Gesichtsausdruck lag so viel Glück und Hoffnung, dass es ihm fast das Herz brach.
„Niklas, würdest du mir einen Gefallen tun?“, sprach die freundlich lächelnde Kinderärztin ihn nochmals an. „Spielst du noch kurz im Wartezimmer mit dem Schaukelelefanten? Ich muss kurz mit deinem Papa noch was besprechen.“
Begeistert nickte der Kleine, stürmte los, machte aber nach wenigen Schritten auf dem Absatz kehrt und kam zurück. „Papa, kannst du die Tabletten nehmen? Sonst wird denen schlecht und sie können nicht mehr so gut helfen!“
Er zwang sich zu einem kurzen Lachen, nahm den Blister entgegen und sah seinem Sohn nach, der voll Tatendrang ins Wartezimmer lief. Niklas liebte dieses Schaukelpferd in Elefantenform, seit er sich selbst darauf festhalten konnte.
Dr. Sabic schloss die Tür zum Untersuchungsraum und wandte sich ihm zu. Sie versuchte zwar, es zu verbergen, doch ihre Mimik zeigte ihre Missbilligung, als sie mit einer knappen Geste auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch deutete und sich selbst zu ihrem Drehstuhl begab. Torsten folgte der stummen Aufforderung und nahm ebenfalls Platz.
„Herr Schmit.“ Nun versuchte die Kinderärztin nicht mehr, ihre Gefühle zu verbergen. „Die Allergie ist wirklich sehr stark ausgeprägt. Sie müssen diesen Hund wirklich abgeben – Niklas hat ja halbe Haarbüschel an seiner Kleidung! Wenn das so weitergeht, werden seine Atemwege irgendwann so sehr zuschwellen, dass er daran ersticken könnte!“
Torsten nickte. Es war nicht das erste Mal, dass Dr. Sabic ihn aufforderte, alle Hunde aus Niklas‘ Reichweite zu entfernen. Dennoch versuchte er es erneut.
„Werden die Antihistaminika denn nicht helfen? Oder könnte man eine Desensibilisierung versuchen?“
Die Kinderärztin schnaubte. „Wollen Sie wirklich, dass Ihr Sohn unter einer Dauermedikation aufwächst? Es ist viel einfacher, das Tier zu entfernen, glauben Sie mir. Ich will ehrlich sein – wenn Sie das nicht endlich einsehen, wäre es mir lieber, Sie suchen sich eine andere Praxis.“
Jetzt stieg Ärger in Torsten auf. „Glauben Sie wirklich, es wäre so einfach? Können Sie sich nicht vorstellen, dass es Umstände gibt, unter denen man ein Tier nicht einfach so weggeben kann?“ Er fand es unmöglich, dass diese Frau sich erdreistete, über seine Lebensumstände zu urteilen, ohne sie zu kennen.
Dr. Sabic erhob sich. „Für mich ist die Frage hier ganz einfach: Ihr Kind oder Ihr Hund. Ich habe meinen Standpunkt klar gemacht – bitte verlassen Sie meine Praxis.“
Mit zu einem Strich zusammengepressten Lippen drehte Torsten der Kinderärztin den Rücken zu und holte Niklas aus dem Wartezimmer. Sein „Tschüs, Elefant“ ließ seine Augen feucht werden – wie sollte er ihm nur erklären, dass er dieses geliebte Spielzeug nicht mehr wiedersehen würde?

Als er ihn in den Kindersitz setzte und anschnallen wollte, legte er seine kleine Hand auf seine. „Bist du sauer, Papa?“
Er seufzte. Dann entschied er sich für die Wahrheit. „Ja, Niklas. Aber nicht auf dich.“
„Auf sie?“ Er wies auf die Praxis.
Er versuchte sich an einem Lächeln. „Ja. Sie möchte, dass wir den Hund weggeben, weil du manchmal niesen musst, wenn du in ihrer Nähe bist.“
Niklas rümpfte seine kleine Nase. „Wir geben doch Mama nicht weg!“
„Natürlich nicht“, erwiderte er lächelnd und gab seinem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Für Werwolfkinder stand diese Option selbstverständlich nicht zur Debatte.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Schuhe

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Diebstahl

„Hier drüben!“ Hektisch winkte die Klientin in einer Ecke des Gartens und zog so Madame Garous Aufmerksamkeit auf sich. „Sehen Sie, hier, da sind Fußabdrücke!“
Neugierig kam die Detektivin näher. Fußabdrücke wären sehr außergewöhnlich! Was mochte einen Dieb dazu veranlassen, mit bloßen Füßen das Weite zu suchen?
Doch sie wurde enttäuscht. Wie so oft war schlicht die Wortwahl der Klientin nicht allzu genau. Ganz im Gegensatz zu dem wirklich prächtigen Schuhabdruck, der zwischen zwei Rosensträuchern im Erdreich prangte.
„Ah ja“, sagte sie, während sie die Spur musterte. Die Leute, die sie engagierten, mochten es für gewöhnlich nicht, wenn sie bei der Untersuchung eines Tatorts schweigsam blieb. Um die Erwartungen der Dame zu befriedigen, zog Madame Garou ein Maßband aus ihrer Tasche, vermaß den Abdruck und notierte sich die Angaben in einem kleinen Notizbuch, das sie für solche Zwecke immer bei sich trug. Sie fügte auch eine grobe Skizze der Fährte an.
„Weswegen notieren Sie das alles?“ Die Klientin war neben sie getreten und sah mit großen Augen in ihr Büchlein.
Rasch klappte die Detektivin es zu. Sie fand es ungehörig, anderen Leuten in die Unterlagen zu schauen, ließ sich ihre Verärgerung aber nicht anmerken, sondern lächelte höflich. Man musste stets aufpassen und die Auftraggebenden bei Laune halten.
„Wenn ich den Dieb verfolgen soll, muss ich seine Spuren eindeutig erkennen können.“ Sie hatte diese Erklärung gut einstudiert. „Sehen Sie beispielsweise hier – dieser Abdruck hier weist darauf hin, dass einer der Nägel in der Sohle fehlt. Und dieser hier“, sie wies auf eine andere Vertiefung innerhalb der Spur, „steht zweifellos weiter hervor als die anderen. Auch dieser Nagel wird bald verloren gehen.“
Sie ertrug für einige Zeit die überschwängliche Bewunderung der Klientin, die sich darüber ausließ, wie ungewöhnlich es doch sei, dass eine Frau sich so gut mit Fährtenlesen auskenne und wie wundervoll dies wäre.
„Nun, ich habe die Beschreibung des gestohlenen Schmucks und werde mich nun an die Verfolgung des Diebes machen“, leitete die Detektivin ihren Abschied ein. Es wurde Zeit, endlich mit der Arbeit zu beginnen!
„Natürlich, natürlich“, nickt die Klientin eifrig. „Auf dass Ihre Spurensuche Sie zu Ihrem Ziel führen möge! Es ist der Schmuck meiner Mutter, der Herr habe sie selig, und ich wäre untröstlich, wenn –“
„Keine Sorge“, unterbrach Madame Garou sie entschieden. Sie wollte wirklich endlich anfangen. „Sie werden schon bald von mir hören.“ Ohne weiter auf die guten Wünsche der Dame einzugehen, ging sie in Richtung des dichten Waldes, auf den der Dieb seinen Spuren nach zugehalten haben dürfte, und verschwand im Dickicht.
Auf dem Waldboden waren mit bloßem Auge natürlich keine Fährte zu erkennen. Sie schmunzelte. Dass die Menschen aber auch immer wieder auf diese Lüge hereinfielen und glaubten, sie würde Schuhabdrücken folgen. Grinsend legte sie ihre Kleidung ab und wurde Wolf. Sie würde den Dieb anhand seiner völlig unverwechselbaren Duftspur verfolgen.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Lügen

Inhaltsangaben/Content notes: Wald, Tiere (Wölfe), Gewalt (Schussverletzung)

„Wir sollten wirklich umkehren.“
Die geflüsterten Worte hörten sich im vollkommen stillen Wald seltsam laut an.
Verärgert hob Michael eine Hand und bedeutete Conny mit einer eindeutigen Geste, endlich den Mund zu halten. Er hatte seinen Entschluss gefasst: Er würde nicht in die Zivilisation zurückkehren, bis er das Biest erledigt hatte. Drecksviech, räudiges!
Er packte das Gewehr fester und beschleunigte seine Schritte, die Augen immer direkt auf den Boden gerichtet. Auf die Spur, die er als erfahrener Fährtensucher im hellen Tageslicht leicht hatte verfolgen können. Die einbrechende Dunkelheit ließ nun die seltenen Blutstropfen mehr und mehr mit der Farbe des feuchten Waldbodens verschmelzen. Aber bald müssten sie das Biest eingeholt haben – die Abstände zwischen den einzelnen Tropfen wurden immer kürzer. Es verlor an Geschwindigkeit.
Seit Monaten war er hinter diesem Ding her. All seine Bekannten hielten ihn inzwischen für verrückt, unterstellten ihm Paranoia und Wahnvorstellungen. Nur Conny begleitete ihn noch in den Wald. Ob das aber aus Überzeugung oder Freundschaft geschah, wusste Michael nicht. Und inzwischen war es ihm auch egal. Hauptsache, sie erwischten dieses Monster.
Monster … Anders konnte man das einfach nicht nennen. Es war nicht natürlich, dass Tiere sich in Menschen verwandeln konnten! Ein Fehler der Natur war das, den es auszumerzen galt. Und er würde dafür sorgen, dass dieses Ding vom Angesicht dieser Erde verschwand!
Da! Das Licht der untergehenden Sonne leuchtete nur ganz kurz zwischen einigen Baumstämmen hindurch, doch der verletzte, sich mühsam dahinschleppende Wolf war deutlich zu erkennen gewesen. Endlich!
Michael grinste kalt und stieß Conny an, deutete in die Richtung, in die sie sich wenden mussten. Er hatte keinen Zweifel an ihrem Erfolg – das Vieh war Geschichte!

Doch es kam anders als gedacht. Als Michael die Hügelkuppe überquerte, stand auf der anderen Seite eine Frau an einem Auto und hievte ächzend den schweren Wolf ins Heck des Kombis.
„Halt!“ Mit langen Schritten, das Gewehr erhoben, eilte Michael vorwärts, Conny dicht auf seinen Fersen.
Die Frau zuckte zusammen, schob das Biest rasch vollständig in den Kofferraum und schlug energisch den Deckel zu. Dann wandte sie sich zu den beiden Neuankömmlingen um.
„Haben Sie den Wolf erschossen?“, fragte sie ruhig. Selbstsicherheit lag in ihrem Blick.
Michael schnaubte verächtlich. „Noch nicht. Aber ich erledige das gern für dich, Mädchen. Mach Platz.“ Er zog sein Jagdmesser aus der Scheide und machte Anstalten, sich dem Wagen zu nähern.
Doch die Frau trat ihm furchtlos in den Weg. „Sie geben also zu, auf ein geschütztes Tier geschossen zu haben?“
Geschütztes Tier? Diese Worte beunruhigten Michael ein bisschen. Es klang verdammt offiziell. Oder arrogant. Wahrscheinlich war die Tussi einfach arrogant.
„Du hast doch keine Ahnung, womit du es da zu tun hast“, fuhr er die Frau an. „Das ist ein gefährliches Raubtier, Mädchen.“ Dass es sogar viel mehr war als das, sagte er lieber nicht. Sie würde es ja sowieso nicht glauben.
Sie antwortete nicht. Der unheilverkündende Blick, mit dem sie ihn musterte, verhieß jedoch nichts Gutes. Als wisse sie etwas, das ihm nicht bekannt war. Als plane sie etwas gegen ihn. Als …
„Sie sind Michael Zonegel, nicht wahr?“
Sie kannte sogar seinen Namen! Dann wusste sie mit Sicherheit alles. Auch über die Biester. Vielleicht war sie selbst eins! Er biss die Zähne zusammen und schloss die Faust fester um den Griff des Jagdmessers.
„Ich bin hier die zuständige Försterin. Ich werde Anzeige wegen der Tötung eines geschützten Tiers gegen Sie erheben, Herr Zonegel. Ich werde …“
Michael hörte ihr gar nicht mehr zu. Blind vor Wut hob er sein Messer und stürzte voran, auf die Försterin zu, die –

„Danke“, sagte Marie und sah auf den ohnmächtigen Mann zu ihren Füßen. „Damit hätte ich nicht gerechnet.“
Conny senkte das Gewehr, dessen Kolben Michael Zonegel zu Boden geschickt hatte. „Klar. Ich wünschte, ich hätte ihn früher aufgehalten.“
Überrascht sah Marie auf. „Nein, das war prima so. Ohne dich hätten wir nie von diesem Typen erfahren. Gut, dass du gleich Bescheid gegeben hattest. Sonst wäre es für Chris vielleicht zu spät gewesen.“
Connys Augen weiteten sich. „Du hast doch gesagt, der Wolf sei tot!“
Marie zuckte grinsend mit den Schultern. „Das soll der gute Herr Zonegel ruhig glauben.“ Dann wurde ihre Miene ernst. „Ich rufe die Polizei. Kannst du hier warten? Chris‘ Wunde muss versorgt werden. Ich würde das lieber erledigen, bevor der Vollmond untergeht und ich mir Beschwerden anhören darf, warum wir so lange gebraucht haben.“
Conny nickte erleichtert, setzte sich auf einen gestürzten Baumstamm, das Gewehr locker über den Knien, und sah Marie hinterher, die den Kombi geschickt aus dem Wald hinaus lenkte. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Polizei eintraf?
Lang genug für eine beruhigende Zigarette.
Das Leben mit Werwölfen konnte ganz schön aufregend sein.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Bloßer Anschein

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Vögel, Wölfe), Meer

„Sind Sie sicher, dass Sie wissen, worauf Sie sich da eingelassen haben?“ Der Matrose blickte zweifelnd von Jenny zu ihrer Ausrüstung und wieder zurück.
Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. „Aber klar!“ Dann sah sie hinüber zu ihrem wunderbaren neuen Arbeitsplatz.
Drei Monate würde sie auf der Insel, vor der sie lagen, verbringen und die Vögel beobachten. Sie freute sich unglaublich, diesen Job ergattert zu haben – Ornithologie hatte sie von allen zoologischen Disziplinen schon immer am meisten interessiert! Es gab nur leider so wenige Jobs, für die Biologinnen und Biologen mit diesen speziellen Kenntnissen benötigt wurden. Selbst Zoologie fristete inzwischen ein Nischendasein an den Universitäten, verdrängt von allen möglichen und unmöglichen Arten von Molekularbiologie, Genetik oder Mikrobiologie. Die Tätigkeitsbereiche verschoben sich immer mehr von der freien Natur in die Labore. Auch Praktika und Studentenjobs gab es fast nur noch für Leute, die gern Pipetten in der Hand oder Computertastaturen unter ihren Fingern hatten. Daher war es Jenny wie ein Wunder vorgekommen, die Anzeige für eine dreimonatige Vogelbeobachtung auf der Außenstelle der „Schutzstation Wattenmeer“ auf dem digitalen Schwarzen Brett der Fachschaft zu finden. Drei Monate nur sie selbst und die Natur – eine wundervolle Vorstellung! Sie würde die ganze Zeit draußen sein, sich möglichst nah an die Vögel heranschleichen, sie identifizieren, beobachten und am Ende des Tages alles in ihren Notizen festhalten.
„Sie wissen, dass wir nur einmal die Woche vorbeikommen, oder?“ Der besorgt dreinblickende Matrose zog wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich und deutete auf die Kisten, die seine Kollegen gerade in das Schlauchboot verladen hatten, mit dem sie die hafenlose Insel gleich anlaufen würden.
„Aber sicher“, beruhigte sie ihn. „Ich habe sogar den genauen Zeitplan und ein Funkgerät für den Fall, dass ich meine Einkaufsliste ändern möchte.“
Doch auch das ließ die Besorgnis nicht aus den Augen des Mannes weichen. „Sie haben da nur diesen Bauwagen, oder? Es könnte kalt werden. Ich will Sie ja wirklich nicht bevormunden, aber …“ Er seufzte und half ihr an Bord des kleinen Schlauchboots. „Na ja. Viel Glück – wir sehen uns nächste Woche.“
Unbekümmert sprang Jenny ins Boot und ließ sich übersetzen, ohne noch einmal zurückzublicken. Sie wusste, dass der Matrose es nett meinte. Sie war das gewöhnt: Immer wieder glaubten Männer aufgrund ihrer zierlichen Gestalt, sie beschützen zu müssen. Ihr ging das gehörig auf die Nerven und so war sie froh, als sie endlich hörte, wie die starken Dieselmotoren das Schiff von der Insel fortbewegen.
Sie verstaute rasch ihr Gepäck in dem kleinen Bauwagen, der ihr als Unterschlupf diente, und aß die mitgebrachte Portion Gulasch mit Reis, die ihre Mutter gestern vorbereitet hatte. Es war wichtig, dass sie satt zu den Vögeln ging. Immerhin hatte sie fest vor, sie nur zu beobachten.
Hoffentlich klappte alles, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie wollte Teil der Natur werden, so nah an die Tiere herankommen, wie kein Mensch es je geschafft hatte.
Entschlossen streifte sie ihre Kleidung ab, wurde Wolf und trabte in Richtung der ersten Vogelkolonie.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Familienbande

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Wald

„… let them know it’s Christmas time …“
Na super. Er verzog das Gesicht und drehte die Lautstärke ein klein wenig herunter. Diese Gute-Laune-Weihnachtsmusik konnte er gerade eigentlich gar nicht gebrauchen, aber der Empfang in dieser Gegend war schlecht und er konnte sich glücklich schätzen, überhaupt von irgendwelchem Gedudel abgelenkt zu werden.
Die Straßenverhältnisse änderten sich, je höher er sein Auto den dunklen Berg hinaufquälte, und forderten seine Konzentration. Das lag allerdings nicht am Wetter, das mit klarer Luft, hellem Mondschein und Temperaturen aufwartete, die Glatteis unwahrscheinlich machten, sondern an der kurvigen Straßenführung. Die Gegend hier war dicht bewaldet und es gab nur vereinzelte kleine Dörfer – kein Wunder, dass die schmalen Straßen im Slalom um jeden größeren Baum herumführten. Hierher verirrte sich außer den Einheimischen vermutlich nie jemand – abgesehen von seinen Freunden natürlich.
Und wieder war er bei dem Thema angelangt, das ihm Sorgen bereitete und über das er während der Fahrt eigentlich nicht nachdenken wollte. Bald war er endlich da – hoffentlich kam er nicht zu spät!
Die Musik verstummte und machte dem Nachrichten-Jingle Platz. Erleichtert drehte er noch weiter auf und lauschte mit einem Ohr der Stimme der Nachrichtensprecherin, während er den Rest seiner Aufmerksamkeit auf den Ausschnitt der Straße lenkte, die seine Scheinwerfer erfassten. Mit mäßigem Interesse verfolgte er die Informationen über Politik, Weltgeschehen, neue Forschungen und Verkehrsinformationen aus dem Sendegebiet. Erst, als es um regionale Nachrichten ging, horchte er auf.
„Wie die Polizei auf Nachfrage des Senders bestätigte, lief eine Party in einem Waldgebiet heute Abend gründlich aus dem Ruder. Mitten im Naturschutzgebiet hatten sich gut zwei Dutzend Leute verlaufen, die von den Einsatzkräften eingesammelt wurden. Gerufen wurden sie übrigens von den verängstigten Partygästen selbst. Was meint ihr, wovor könnten sie sich so gefürchtet haben? Ruft an und erzählt uns eure Meinung – nach drei Hits geht’s weiter!“
Na toll – jetzt war es sogar schon in den Nachrichten. Er musste seine Freunde unbedingt da rausholen, bevor man auch sie entdeckte! Entschlossen schaltete er einen Gang runter und trat das Gaspedal weiter durch. Wo war nur der verdammte Wanderparkplatz? Hoffentlich war er noch nicht daran vorbeigefahren!
Drei Kurven später sprang plötzlich ein Tier vor seinen Wagen. Er schrak zusammen, versuchte, gleichzeitig auszuweichen und zu bremsen, eine Herausforderung, die ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Mit wild klopfendem Herzen kam er zum Stehen, genau an der Stelle, an der er soeben noch das Tier gesehen hatte. Wo war es hin? Er hatte es doch hoffentlich nicht erwischt?
Er atmete durch und drehte den Zündschlüssel. Das Radio erstarb und nur das Knacken des warmen Motors störte noch die Ruhe des nächtlichen Waldes. Vorsichtig öffnete er die Tür und stieg langsam aus.
Stille. Obwohl … Als er genauer hinhörte, vernahm er vereinzelte, leise Rufe – vermutlich die Suchmannschaften der Polizei, die sich seiner Position näherten. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnten, sah er in einiger Entfernung auch die Strahlen von Taschenlampen durch den Wald zucken. Und ganz in seiner Nähe, nur wenige Meter vor ihm und fast direkt neben der Fahrbahn, reflektierten zwei Raubtieraugen das Standlicht seines Fahrzeugs.
Einen Moment lang flackerte instinktive Angst in ihm auf und er griff nach der Fahrzeugtür, die er wie einen Schild zwischen sich und das Tier brachte. Leises Rascheln ertönte, als sich ein zweites, dann ein drittes Augenpaar dazugesellte. Erst als sie zu dritt waren, traten die Wölfe aus ihrer Deckung und näherten sich mit leisem Winseln seinem Auto.
Erleichtert ließ er die Autotür los und ging in die Knie. „Ich hatte schon Angst, ich finde euch nicht rechtzeitig“, murmelte er lächelnd. „Mama und Papa hätten mir das nie verziehen!“ Fest schloss er seine Schwester und ihre beiden Freunde in die Arme, bevor er den Kofferraumdeckel öffnete und sie einsteigen ließ, um sie in Sicherheit zu bringen.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Mythen

Inhaltsangaben/Content notes: Kaffee, Tiere (Wölfe)

„Meine Güte, Max, siehst du müde aus!“ Jenny schlug sich in der für sie so typisch theatralischen Geste die Hand vor den Mund und sah ihn mit großen Augen an.
Er bemühte sich um ein unverbindliches Lächeln. „Ich hab heute Nacht einfach nicht besonders gut geschlafen.“
„Na kein Wunder“, ertönte es von der Tür her. „Das wird heute vielen so gehen.“ Claudia betrat mit ihrer grellgrünen Shrek-Kaffeetasse den Pausenraum und stellte sich in die kurze Schlange vor dem Kaffeeautomaten.
„Warum das denn?“ Jenny sah ihre Kollegin mit weit aufgerissenen Augen an, was ihr Gesicht zur Karikatur einer Frage werden ließ. Max fragte sich bei solchen Gelegenheiten immer, wie man eine derartig übertriebene Mimik entwickeln konnte.
Auch Claudia wirkte irritiert. Max unterdrückte das Schmunzeln, das die so unterschiedlichen Gesichtsausdrücke seiner Kolleginnen in ihm hervorriefen, nahm seine Tasse und machte den Platz an der Kaffeemaschine frei.
„Na, heute Nacht war Vollmond“, erläuterte Claudia. „Da schlafen unglaublich viele Leute so richtig schlecht. Hört man doch überall.“
Nun bildeten sich Falten auf Jennys Stirn. „Wirklich? Warum sollte die Mondphase denn den Schlaf beeinflussen?“
Max gab nur langsam Milch in seine Tasse und rührte gründlich um, bevor er sich dem Zucker zuwandte. Dieses Schauspiel wollte er sich nicht entgehen lassen. Claudia war neu hier und kannte Jenny noch nicht, die mit ihrer übertriebenen Mimik und Gestik auf die meisten Leute sehr naiv wirkte. Wie man sich doch durch Äußerlichkeiten täuschen lassen konnte.
„Tja, wer weiß“, sagte die Neue gerade. „Die Menschheit versteht eben noch lange nicht alles.“
„Mondkalender“, wiederholte Jenny langsam und nickte nachdenklich. „Man kann also genau erklären und berechnen, wann wie viel Prozent der Mondoberfläche Sonnenlicht reflektieren, aber nicht sagen, warum das irgendwie anders sein soll als das Licht, das uns direkt erreicht?“
Claudia lächelte schmallippig. „Das ist seit Jahrhunderten bekannt. Und nur, weil man noch keine Erklärung dafür hat, heißt das nicht, dass es nicht stimmt.“ Mit einer knappen Bewegung ergriff sie ihre gefüllte Oger-Tasse, machte auf dem Absatz kehrt und ließ die beiden anderen stehen.
Jenny grinste, als die Tür zum Pausenraum zufiel. „Was haben wir uns denn da eingefangen“, sagte sie an Max gewandt, der gerade den benutzten Zuckerlöffel in die Spülmaschine gab.
Er zuckte beiläufig mit den Schultern. „Angeblich schlafen ja wirklich viele Menschen in Vollmondnächten nicht besonders gut.“
Jenny holte lautstark Luft, trat einen Schritt zurück und legte sich eine Hand auf die Brust. „Auch du, Brutus?“
Max nahm seine Tasse auf. „Na hör mal. Nicht jeder hat Rollläden oder Jalousien an den Schlafzimmerfenstern. Das helle Licht stört manche Leute echt beim Schlafen.“ Er zwinkerte Jenny zu, die auflachte und sich beide Hände übers Herz legte, um zu demonstrieren, wie knapp sie einem Schock entronnen war, und ging in sein Büro hinüber.
Erst dort erlaubte er sich ein breites Grinsen. Wenn Jenny wüsste, dass seine Spezies schon seit Menschengedenken dieses Gerücht vom schlechten Schlaf in Vollmondnächten streute! Und der Plan ging auf: Niemand wunderte sich, wenn Werwölfe sich am folgenden Tag müde wieder unter die Menschen mischten.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Entweder oder

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Fische, Wölfe)

Schon nach einem einzigen sanften Klopfen an die Scheibe kam er hinter dem dekorativen Schlösschen hervor und schwamm auf sie zu. Freude lag in seinen Bewegungen, das erkannte sie ganz deutlich. Er wollte mit ihr spielen, so, wie sie es seit Jahren taten.
Tränen stiegen in ihre Augen, obwohl sie tapfer lächelte. Sie tauchte ihre Hand ins warme Wasser, erlaubte Skala, wie sie den Skalar höchst unkreativ genannt hatte, in ihre Hand zu schwimmen und sich an ihren Fingern zu reiben. Er tat das nicht nur wegen des Futters, das wusste sie. Sie und der Fisch waren Freunde, seit er bei ihr ins Aquarium eingezogen war. Und nun musste sie ihn fortgeben.
Wieder wurden ihre Augen feucht, als ihre Fingerspitzen ein letztes Mal Skalas glatte Haut streiften. Er war nicht einfach nur irgendein Fisch – er war etwas ganz Besonderes. So, wie andere Leute ihr Herz an einen Wellensittich oder eine Hauskatze verloren, so liebte sie dieses zutrauliche Tier. Nicht, dass sie die Entscheidung, ihn fortzugeben, bereute, aber das minderte ihre Trauer nicht.
Behutsam schob sie die Klarsichtbox, in der sie Skala in sein neues Zuhause bringen würde, unter ihren Liebling, verscheuchte ein paar neugierige Guppys und hob den Behälter an. Skala war sichtlich irritiert, verhielt sich aber ruhig.
„Du wirst mir fehlen, mein Freund“, sagte sie leise. Dann setzte sie den Deckel auf und stellte die Dose in die Styroporbox, die ihr Freund für sie bereithielt.
„Es tut mir leid.“ Ehrliches Bedauern lag in seinem Blick. Er hatte ihre Beziehung zu diesem Fisch nie verstanden, aber akzeptiert. „Ich hätte es gerne mit einem stabileren Aquariendeckel oder so versucht.“
„Nein.“ Sie atmete tief durch, verschloss die Box und schenkte ihm ein Lächeln. „Wenn du ihn fressen würdest, könnte ich dir das nie verzeihen. Bei Jana ist er sicher und es wird ihm gut gehen. Ich kann ihn ja sogar besuchen!“ Mit einem Kuss unterband sie jeden Widerspruch. Sie hatte sich entschieden: Sie liebte ihren Fisch zwar, doch ihren Werwolf liebte sie noch mehr. Und wenn der eine nun bei ihr einzog, musste der andere leider gehen. Zu seiner eigenen Sicherheit in Vollmondnächten.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Schreib einen Kommentar

Schwesterliebe

Inhaltsangaben/Content Note: Kinder, Pubertät, Tiere (Kaninchen, Wölfe)

„Mamaaaaaaaaaa!“
Der verzweifelte Schrei ihrer Jüngsten veranlasste Angelika, den Gartenschlauch fallenzulassen und ihr mit offenen Armen entgegenzulaufen. Was auch immer passiert war, zuallererst wollte sie Svenja Trost und Sicherheit bieten, bevor sie herausfand, warum sie so schluchzte. Doch sie musste gar nicht lange warten.
„Flecki ist weg!“
Oh nein. Angelika wusste genau, wie sehr Svenja an dem Kaninchen der Nachbarn hing. Das freundliche Ehepaar hatte, als sie die Trauer des Mädchens um den abgegebenen Familienhund bemerkten, still und heimlich ihren alten Kaninchenstall wieder auf Vordermann gebracht und Svenja gebeten, ihr bei der Auswahl neuer Haustiere zu helfen. Zwei wunderhübsche, schwarz-weiß gefleckte Zwergkaninchen waren es geworden. Svenja hatte ihnen sogar Namen geben dürfen: Flecki und Kuschel. Natürlich ersetzten die beiden Tiere Bodo, den wundervollen Dalmatiner, den sie sechs Jahre lang besessen hatten, nicht. Doch die halfen der ganzen Familie dabei, den Verlust zu verschmerzen.
„Was ist denn passiert?“, erkundigte sie sich.
Svenja zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und erklärte mit erstickter Stimme: „Ich wollte sie ins Freigehege setzen. Kuschel hat sich ganz brav tragen lassen, aber Flecki hat ein bisschen gezappelt und dann bin ich gestolpert und sie ist runtergefallen und erschrocken und …“ Wieder ein Schluchzen. „Mama, sie verhungert doch, wenn sie ganz allein ist!“
Was konnte sie dazu nur sagen? Ein wenig hilflos zog Angelika ihre Tochter erneut in ihre Arme. „Vielleicht findet sie ja wieder heim“, sagte sie und bemühte sich, die Unsicherheit in ihrer Stimme zu verbergen.

Zwei Stunden später hatten sie, ihr Mann Wolfgang, die beiden Nachbarn Bernhard und Simone, ihre Jüngste und ihr Ältester erfolglos die gesamte Umgebung nach Flecki abgesucht. Das Kaninchen hatte sich wohl relativ schnell über die angrenzenden Felder in Richtung der Weinberge davongemacht – ausgerechnet dorthin, wo zu dieser Jahreszeit zahlreiche Greifvogeleltern nach unvorsichtigen Nagetieren suchten, die sie an ihre Jungen verfüttern konnten. Und durch ihre weiße Färbung war Flecki wirklich schwer zu übersehen.
Sie machte sich Sorgen um das kleine Tier. Es war Zuneigung und Fürsorge gewohnt – sicherlich hatte es Angst, so allein da draußen. Und könnte es überhaupt überleben?
Seufzend ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und barg das Gesicht in den Händen. Was konnte sie nur tun?
„Ähm … Alles klar?“
Überrascht hob Angelika den Kopf und sah ihre ältere Tochter an. Es war ungewöhnlich, dass Laura sich nach ihrem Befinden erkundigte: In den letzten Wochen lebte die junge Frau fast ausschließlich in ihrem Zimmer und kommunizierte vorwiegend über Streits mit ihrer Familie.
„Flecki ist weggelaufen“, erklärte sie. „Das Kaninchen der Nachbarn“, schob sie sicherheitshalber hinterher.
„Ich weiß, wer Flecki ist!“, brauste Laura auf. Doch so schnell, wie ihr Ärger hochkochte, kühlte er auch wieder ab. „Habt ihr sie schon gesucht?“
„Stundenlang“, antwortete ihre Mutter bedrückt. „Da ist wohl nichts zu machen.“
Laura runzelte ihre Stirn. „Warum habt ihr nichts gesagt? Ich hätte geholfen.“
Angelika zögerte. Ihre Antwort würde ganz sicher wieder einen Wutausbruch hervorrufen. Ihre Tochter litt gerade stark unter all den Veränderungen, die die Pubertät mit sich brachte, und hatte daher eine ausgesprochen kurze Zündschnur. Wie konnte sie es formulieren, damit sie sich nicht allzu sehr ärgerte?
Doch ihr Zögern hatte schon zu lange gedauert. Laura stieß verärgert die Luft aus. „Svenja wollte nicht, richtig?“
Mit einem schicksalsergebenen Seufzen lehnte Angelika sich in ihrem Stuhl zurück. „Du kannst es ihr nicht wirklich übelnehmen. Sie ist immer noch traurig, dass wir Bodo abgeben mussten.“
„Aber ich kann doch da nichts dafür!“, schrie Laura und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Ich hab mir den Scheiß doch nicht ausgesucht!“ Mit einer wütenden Bewegung wischte sie die Tränen weg, die ihr übers Gesicht liefen. „Dass der blöde Hund so eine Angst vor mir hat, ist nicht meine Schuld. Ich will das doch auch nicht.“ Wieder wurden ihre Wangen nass.
Oh, wie sehr wünschte Angelika sich, ihre Tochter trösten zu können. Leise stand sie auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ein Trostangebot, da sie nicht wusste, ob Laura gerade in der Stimmung für Körperkontakt war oder nicht. Doch anstatt sie fortzuschieben oder sich in die Arme nehmen zu lassen, hob die Fünfzehnjährige auf einmal den Kopf und sah ihre Mutter mit hoffnungsvollem Blick an.
„Mama … ich kann Flecki bestimmt finden!“
Angelika war irritiert. Dann begriff sie. „Das geht nicht, Schatz. Wenn dich jemand sieht –“
„Ihr müsst doch nur die Nachbarn ablenken!“ Laura war Feuer und Flamme für ihre Idee. „Ich pass schon auf, es wird doch bald dunkel! Ich muss nur an den Kaninchenstall, damit ich ihre Fährte aufnehmen kann!“
Angelika zögerte. „Und wenn du sie findest …?“
Stolz hob Laura das Kinn. „Ich werd sie nicht fressen oder so! Ich werd sie ganz vorsichtig hertragen! Ich geh meine Klamotten ins Zimmer bringen – bin gleich wieder da!“ Damit stürmte sie aus der Tür.
Nachdenklich sah Angelika ihrer Tochter nach. Dann lächelte sie. Vielleicht war das endlich das Ereignis, das Laura so dringend brauchte, um sich mit ihrem Werwolfdasein anzufreunden. Und möglicherweise versöhnte dieser Akt schwesterlicher Hilfe ja sogar Svenja.

Veröffentlicht unter Kurzgeschichten | Verschlagwortet mit , , | Ein Kommentar