Schwesterliebe

Inhaltsangaben/Content Note: Kinder, Pubertät, Tiere (Kaninchen, Wölfe)

„Mamaaaaaaaaaa!“
Der verzweifelte Schrei ihrer Jüngsten veranlasste Angelika, den Gartenschlauch fallenzulassen und ihr mit offenen Armen entgegenzulaufen. Was auch immer passiert war, zuallererst wollte sie Svenja Trost und Sicherheit bieten, bevor sie herausfand, warum sie so schluchzte. Doch sie musste gar nicht lange warten.
„Flecki ist weg!“
Oh nein. Angelika wusste genau, wie sehr Svenja an dem Kaninchen der Nachbarn hing. Das freundliche Ehepaar hatte, als sie die Trauer des Mädchens um den abgegebenen Familienhund bemerkten, still und heimlich ihren alten Kaninchenstall wieder auf Vordermann gebracht und Svenja gebeten, ihr bei der Auswahl neuer Haustiere zu helfen. Zwei wunderhübsche, schwarz-weiß gefleckte Zwergkaninchen waren es geworden. Svenja hatte ihnen sogar Namen geben dürfen: Flecki und Kuschel. Natürlich ersetzten die beiden Tiere Bodo, den wundervollen Dalmatiner, den sie sechs Jahre lang besessen hatten, nicht. Doch die halfen der ganzen Familie dabei, den Verlust zu verschmerzen.
„Was ist denn passiert?“, erkundigte sie sich.
Svenja zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und erklärte mit erstickter Stimme: „Ich wollte sie ins Freigehege setzen. Kuschel hat sich ganz brav tragen lassen, aber Flecki hat ein bisschen gezappelt und dann bin ich gestolpert und sie ist runtergefallen und erschrocken und …“ Wieder ein Schluchzen. „Mama, sie verhungert doch, wenn sie ganz allein ist!“
Was konnte sie dazu nur sagen? Ein wenig hilflos zog Angelika ihre Tochter erneut in ihre Arme. „Vielleicht findet sie ja wieder heim“, sagte sie und bemühte sich, die Unsicherheit in ihrer Stimme zu verbergen.

Zwei Stunden später hatten sie, ihr Mann Wolfgang, die beiden Nachbarn Bernhard und Simone, ihre Jüngste und ihr Ältester erfolglos die gesamte Umgebung nach Flecki abgesucht. Das Kaninchen hatte sich wohl relativ schnell über die angrenzenden Felder in Richtung der Weinberge davongemacht – ausgerechnet dorthin, wo zu dieser Jahreszeit zahlreiche Greifvogeleltern nach unvorsichtigen Nagetieren suchten, die sie an ihre Jungen verfüttern konnten. Und durch ihre weiße Färbung war Flecki wirklich schwer zu übersehen.
Sie machte sich Sorgen um das kleine Tier. Es war Zuneigung und Fürsorge gewohnt – sicherlich hatte es Angst, so allein da draußen. Und könnte es überhaupt überleben?
Seufzend ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und barg das Gesicht in den Händen. Was konnte sie nur tun?
„Ähm … Alles klar?“
Überrascht hob Angelika den Kopf und sah ihre ältere Tochter an. Es war ungewöhnlich, dass Laura sich nach ihrem Befinden erkundigte: In den letzten Wochen lebte die junge Frau fast ausschließlich in ihrem Zimmer und kommunizierte vorwiegend über Streits mit ihrer Familie.
„Flecki ist weggelaufen“, erklärte sie. „Das Kaninchen der Nachbarn“, schob sie sicherheitshalber hinterher.
„Ich weiß, wer Flecki ist!“, brauste Laura auf. Doch so schnell, wie ihr Ärger hochkochte, kühlte er auch wieder ab. „Habt ihr sie schon gesucht?“
„Stundenlang“, antwortete ihre Mutter bedrückt. „Da ist wohl nichts zu machen.“
Laura runzelte ihre Stirn. „Warum habt ihr nichts gesagt? Ich hätte geholfen.“
Angelika zögerte. Ihre Antwort würde ganz sicher wieder einen Wutausbruch hervorrufen. Ihre Tochter litt gerade stark unter all den Veränderungen, die die Pubertät mit sich brachte, und hatte daher eine ausgesprochen kurze Zündschnur. Wie konnte sie es formulieren, damit sie sich nicht allzu sehr ärgerte?
Doch ihr Zögern hatte schon zu lange gedauert. Laura stieß verärgert die Luft aus. „Svenja wollte nicht, richtig?“
Mit einem schicksalsergebenen Seufzen lehnte Angelika sich in ihrem Stuhl zurück. „Du kannst es ihr nicht wirklich übelnehmen. Sie ist immer noch traurig, dass wir Bodo abgeben mussten.“
„Aber ich kann doch da nichts dafür!“, schrie Laura und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. „Ich hab mir den Scheiß doch nicht ausgesucht!“ Mit einer wütenden Bewegung wischte sie die Tränen weg, die ihr übers Gesicht liefen. „Dass der blöde Hund so eine Angst vor mir hat, ist nicht meine Schuld. Ich will das doch auch nicht.“ Wieder wurden ihre Wangen nass.
Oh, wie sehr wünschte Angelika sich, ihre Tochter trösten zu können. Leise stand sie auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ein Trostangebot, da sie nicht wusste, ob Laura gerade in der Stimmung für Körperkontakt war oder nicht. Doch anstatt sie fortzuschieben oder sich in die Arme nehmen zu lassen, hob die Fünfzehnjährige auf einmal den Kopf und sah ihre Mutter mit hoffnungsvollem Blick an.
„Mama … ich kann Flecki bestimmt finden!“
Angelika war irritiert. Dann begriff sie. „Das geht nicht, Schatz. Wenn dich jemand sieht –“
„Ihr müsst doch nur die Nachbarn ablenken!“ Laura war Feuer und Flamme für ihre Idee. „Ich pass schon auf, es wird doch bald dunkel! Ich muss nur an den Kaninchenstall, damit ich ihre Fährte aufnehmen kann!“
Angelika zögerte. „Und wenn du sie findest …?“
Stolz hob Laura das Kinn. „Ich werd sie nicht fressen oder so! Ich werd sie ganz vorsichtig hertragen! Ich geh meine Klamotten ins Zimmer bringen – bin gleich wieder da!“ Damit stürmte sie aus der Tür.
Nachdenklich sah Angelika ihrer Tochter nach. Dann lächelte sie. Vielleicht war das endlich das Ereignis, das Laura so dringend brauchte, um sich mit ihrem Werwolfdasein anzufreunden. Und möglicherweise versöhnte dieser Akt schwesterlicher Hilfe ja sogar Svenja.

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