Entweder oder

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Fische, Wölfe)

Schon nach einem einzigen sanften Klopfen an die Scheibe kam er hinter dem dekorativen Schlösschen hervor und schwamm auf sie zu. Freude lag in seinen Bewegungen, das erkannte sie ganz deutlich. Er wollte mit ihr spielen, so, wie sie es seit Jahren taten.
Tränen stiegen in ihre Augen, obwohl sie tapfer lächelte. Sie tauchte ihre Hand ins warme Wasser, erlaubte Skala, wie sie den Skalar höchst unkreativ genannt hatte, in ihre Hand zu schwimmen und sich an ihren Fingern zu reiben. Er tat das nicht nur wegen des Futters, das wusste sie. Sie und der Fisch waren Freunde, seit er bei ihr ins Aquarium eingezogen war. Und nun musste sie ihn fortgeben.
Wieder wurden ihre Augen feucht, als ihre Fingerspitzen ein letztes Mal Skalas glatte Haut streiften. Er war nicht einfach nur irgendein Fisch – er war etwas ganz Besonderes. So, wie andere Leute ihr Herz an einen Wellensittich oder eine Hauskatze verloren, so liebte sie dieses zutrauliche Tier. Nicht, dass sie die Entscheidung, ihn fortzugeben, bereute, aber das minderte ihre Trauer nicht.
Behutsam schob sie die Klarsichtbox, in der sie Skala in sein neues Zuhause bringen würde, unter ihren Liebling, verscheuchte ein paar neugierige Guppys und hob den Behälter an. Skala war sichtlich irritiert, verhielt sich aber ruhig.
„Du wirst mir fehlen, mein Freund“, sagte sie leise. Dann setzte sie den Deckel auf und stellte die Dose in die Styroporbox, die ihr Freund für sie bereithielt.
„Es tut mir leid.“ Ehrliches Bedauern lag in seinem Blick. Er hatte ihre Beziehung zu diesem Fisch nie verstanden, aber akzeptiert. „Ich hätte es gerne mit einem stabileren Aquariendeckel oder so versucht.“
„Nein.“ Sie atmete tief durch, verschloss die Box und schenkte ihm ein Lächeln. „Wenn du ihn fressen würdest, könnte ich dir das nie verzeihen. Bei Jana ist er sicher und es wird ihm gut gehen. Ich kann ihn ja sogar besuchen!“ Mit einem Kuss unterband sie jeden Widerspruch. Sie hatte sich entschieden: Sie liebte ihren Fisch zwar, doch ihren Werwolf liebte sie noch mehr. Und wenn der eine nun bei ihr einzog, musste der andere leider gehen. Zu seiner eigenen Sicherheit in Vollmondnächten.

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