Sturm

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), verletztes Tier, Sturm, Wald

Eng schmiegte sich das Rudel an einen schützenden Erdwall. Die Bäume in ihrer Umgebung wurden von heftigen Sturmböen gebogen und geschüttelt, Blätter und Zweige fielen immer wieder auf die Wölfe hinunter und erzeugten dabei so manches erschreckte Winseln oder Aufheulen. Die Tiere mussten die Augen gegen Wind und herumgewirbelten Schmutz zu Schlitzen verengen, um überhaupt noch etwas erkennen zu können, ohne das Augenlicht zu verlieren.
Die Leitwölfin wusste, dass das sie nicht hierbleiben konnten. Wir brauchen Schutz. Einen Unterschlupf. Im Wald ist es gefährlich.
Doch wohin sollte sie sich wenden? Sie kannte keine Höhle in diesem Teil des Forsts und ein Gebäude, in dem sie sich unterstellen könnten, gab es nur in der Nähe der Menschen. Es war unklug, dorthin zu gehen. Jemand könnte sie beobachten.
Die Windböen wurden noch stärker. Inzwischen brachen ganze Äste von den geschwächten Bäumen, die im Sommer unter dem Regenmangel gelitten hatten. Der Klimawandel machte auch vor diesem Wald, in dem so herrlich wenige Menschen unterwegs waren, nicht halt.
Wir müssen näher ans Dorf, beschloss die Leitwölfin. Sie würde das Rudel dorthin führen. Langsam machte sie sich auf den Weg, hielt sich dabei stets möglichst nah am Boden, um den Wind nicht direkt abzubekommen. Die anderen Rudelmitglieder folgten ihr.
Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ die Tiere zusammenzucken. Warum der Baum in ihrer Nähe fiel, war nicht ersichtlich, doch er tat es – und ein gequältes Jaulen bewies, dass er dabei jemanden verletzte.
So schnell ihre Pfoten sie trugen, eilte die Leitwölfin zur Unglücksstelle. Was sie sah, erfüllte sie mit Erleichterung und Sorge zugleich.
Er liegt nicht unter dem Stamm. Aber ein Ast klemmt ihn ein.
Einer der jüngeren Wölfe winselte verzweifelt und versucht, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, obwohl seine Position verriet, dass er sich mindestens einen Knochen gebrochen hatte. Drei andere Rudelmitglieder waren eifrig dabei, ihn freizugraben, doch sie trafen nach wenigen Zentimetern auf Fels. So kamen sie nicht weiter.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit stieg in der Leitwölfin auf. Der Sturm warf ihr Laub und Tannennadeln ins Gesicht, die ersten Regentropfen fielen, und jemand aus ihrem Rudel war verletzt. Sie musste das Risiko eingehen.
Sie suchte Augenkontakt zu ihrem Stellvertreter, wies ihn mit einer Kopfbewegung an, hierzubleiben.
Ich hole Hilfe, dachte sie und war erleichtert, als er ihre Gestik richtig zu deuten schien. Sie verlor keine weitere Zeit, sondern eilte los, durch Wind und Wetter, dem Dorf entgegen.
Sie liebte ihr Rudel. Jeden einzelnen Wolf. Und auch, wenn manche behaupteten, es seien nur diese Individuen, die wirklich zählen sollten, liebte sie genauso sehr auch den anderen Teil des Rudels: Ihre menschlichen Verwandten. Sie würden ihnen nun helfen, ganz sicher. Das war der Vorteil des Werwolfdaseins: Man war nie allein.

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