Spuren

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Hunde, Wölfe, Schakale), totes Tier (bildlich beschrieben), Blut, Wald

Was war das denn? Dort, rechts von ihr, hinter der großen Kurzstieleiche. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie gedankenverloren zu ihrem Auto gelaufen war. Neugierig machte sie kehrt und ging die wenigen Schritte zurück, um nochmals hinsehen zu können.
Von der Eiche aus konnte sie keine Details ausmachen, doch sie war sich sicher, dass dort hinten ein gerissener Kadaver im Wald lag. Der unverkennbare Geruch von Tod stieg ihr in die Nase und die Silhouette, die sie im dämmrigen Licht unter dem dichten Blätterdach des Forsts erkennen konnte, wirkte auf sie wie ein Reh. Sie sah sich einmal aufmerksam um, dann ging sie neugierig auf das tote Tier zu.
Als Jägerin war es nicht nur ihre Aufgabe, den Wildtierbestand durch gezielte Abschüsse zu kontrollieren, sondern auch, über die in ihrem Revier herumstreunenden Raubtiere Bescheid zu wissen. Ironischerweise waren die, die die meisten Schäden verursachten, meist die ach so braven und anständigen Haushunde, die Waldis und Fiffis, die von ihren naiven Besitzerinnen und Besitzern für völlig harmlos gehalten wurden. Ja, das Tier war weggelaufen, aber nein, niemals würde der tierische Freund irgendwem etwas zu Leide tun!
In der Stadt mochte das vielleicht sogar stimmen. Doch hier, tief im Forst, wurde allzu leicht der Jagdinstinkt der Hunde geweckt. Eine Situation, die die meisten Menschen nie mit ihren Haustieren erlebt hatten.

Schon aus wenigen Metern Entfernung erkannte sie, was genau sie dort vor sich hatte: ein weibliches Reh, eine Ricke. Bedauern über den Tod des schönen Tiers stieg in ihr auf: Wenn man vom aufgerissenen Bauch absah, wirkte es mit seiner kräftigen Statur und dem glänzenden Fell vollkommen gesund. Eine Schande, dass es hatte sterben müssen.
Verblüfft hielt sie inne, als sie ganz herangekommen war. Entgegen ihrer Vermutung war dieser Tod sicherlich nicht das Werk eines herumstreunenden Hundes. Beine und Flanken, die Hauptziele von hetzenden Hunden, waren kaum verletzt. Der Jäger, der dieses Tier gerissen hatte, hatte einen sauberen Kehlbiss angesetzt und die Ricke damit erstickt.
Das war definitiv kein Hundeverhalten. Nachdenklich starrte sie auf die Halswunde. In deutschen Wäldern gab es eigentlich nur drei Jäger, die so töteten: Luchse, Goldschakale und Wölfe. Ein Luchs konnte es aber nicht sein, der hätte seine Beute in einen Baum hinaufgezogen, um sie für sich alleine zu haben.
Goldschakal oder Wolf … Beides war ihr hier nicht bekannt.
Aufgeregt zuckte sie mit den Ohren und beugte die Nase tief über den Boden, um die Fährte des Tieres aufzunehmen. Dabei entdeckte sie einen Pfotenabdruck im weichen Waldboden.
Ein klein wenig war sie enttäuscht, als sie die Spur des Goldschakals erkannte. Andere Wölfe wären eine schöne Überraschung gewesen! Dennoch würde ihr Werwolfrudel sich freuen, wenn sie beim nächsten Vollmond den neuen Waldbewohner kennenlernen könnten. Wo mochte er wohl stecken? Hatte er einen festen Schlafplatz? Sie beschloss, ihre Rückfahrt in die Stadt und die damit verbundene Verwandlung noch ein wenig aufzuschieben und der Spur des Schakals noch ein wenig zu folgen.

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