Sinne

Inhaltsangaben/Content notes: Blindheit, Tiere (Wölfe)

Vorsichtig tastete Andrea sich Schritt um Schritt voran. Er hasste den Herbst. Überall lag Laub herum, die Blätter türmten sich in Schichten und waren einfach nur im Weg. In der Stadt war das ja kein großes Problem, dort wurden die Gehwege regelmäßig gefegt, doch hier, auf dem schmalen Waldweg, tat das natürlich niemand. Nicht, dass er das nicht verstand, dennoch ärgerte er sich gerade darüber, weil es guttat, seine Frustration auf etwas Konkretes richten zu können.
Eigentlich müsste er den kleinen Rastplatz, wo sie sich verabredet hatten, doch längst erreicht haben, oder? Unsicher blieb er stehen und lauschte, aber alles, was er hörte, war das monotone Rauschen des Winds in den Blättern. Wie weit war es noch bis zu der Biegung, hinter der der Treffpunkt lag? Laut seiner Zählung hatte er schon mehr Schritte zurückgelegt als normalerweise nötig … Nein. Nein, heute ging er sehr viel vorsichtiger als sonst, um auf dem nassen, schlüpfrigen Laub nicht auszurutschen. Er würde die Kurve zweifellos gleich erreichen. Ganz sicher.
Ein Rascheln in seinem Rücken ließ ihn innehalten. Was war das? Ein Tier im Gebüsch? Kaum, dass er darauf achtete, erstarb das Geräusch. Vielleicht waren es ja nur fallende Blätter gewesen … Oh, er hasste den Herbst! Und er trieb sich schon viel zu lange auf diesem Weg herum. Es wurde Zeit, dass er den Rastplatz erreichte!
Entschlossen packte Andrea den Griff seines Stockes fester, bewegte dessen Ende immer über dem schmalen Grasstreifen, der für ihn die Mitte des Waldwegs markierte, und schritt zügiger aus. Er war diesen Weg schon so oft gegangen, es wäre doch gelacht, wenn er nicht innerhalb weniger Minuten sein Ziel –
Vor lauter Schreck schrie er kurz auf, als sein Fuß wegrutschte und er ins Straucheln geriet. Sein Stock, sonst eine Hilfe im Alltag, verfing sich durch die plötzliche Bewegung zwischen den Grasbüscheln und behinderte seine Ausweichbewegung, sodass er haltlos mit den Armen rudernd zur Seite kippte. Instinktiv schloss er die nutzlosen Augen, als er im Fallen die ersten Zweige berührte.
Doch sein Sturz endete ebenso abrupt, wie er begonnen hatte. Er hörte ein Keuchen, als er auf eine starke, mit dichtem Fell bewachsene Brust traf. Zwei Pfoten, die gegen seine Hüfte gestemmt wurden, stabilisierten ihn, sodass er sein Gleichgewicht wiederfand und sich mit klopfendem Herzen wieder aufrichtete.
Der Geruch nach nassem Hund und das charakteristische Hechelgeräusch verrieten ihm eindeutig, wer ihn da vor dem Fall bewahrt hatte. Er legte dem großen Wolf, der immer noch auf den Hinterbeinen vor ihm stand und sich an ihn lehnte, eine Hand auf die Schulter.
„Danke, Alex“, sagte er und lächelte. „Diese verdammten Herbstblätter sind echt rutschig. Begleitest du mich zu den anderen?“
Ein zustimmendes Brummen ertönte und der Wolf ging wieder auf alle viere, hielt sich dicht bei ihm und lotste ihn um die hinderlichsten Stellen herum.
Andrea war froh, dass Alex ihn gefunden hatte. So war alles viel einfacher. Gleich würde er bei den anderen sein. Er konnte es kaum erwarten, sich dem Rudel anzuschließen, endlich auch die Gestalt zu wechseln. Manchmal wünschte er, er könnte dauerhaft in Wolfsgestalt leben: Der exzellente Geruchssinn, sein feines Gehör und die großartigen Tasthaare an der Schnauze glichen die verlorene Sehkraft beinahe aus.

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