Schimmel

Inhaltsangaben/Content notes: Food (Steak), Schimmel

„Schimmelfleisch?“ Julius sah den Metzger mit großen Augen an. „Echt jetzt?“
Der schmunzelte. „Die meisten reagieren erst mal so ungläubig. Aber versuchen Sie es doch mal – der Geschmack ist einzigartig!“
Julius verzog das Gesicht, als er auf das Preisschild sah. Er war zwar neugierig, aber das verschimmelte Fleisch war ganz schön teuer. „Klar schmeckt das anders“, erwiderte er grummelig. „Alles schmeckt anders, wenn’s schimmelt. Und das nicht unbedingt besser.“
Der Metzger schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, was ihn ärgerte. Aber er wollte mehr erfahren, also beherrschte er sich und hörte weiter zu.
„Der Pilz wächst in einem speziellen Reifeprozess durch die Zellstruktur des Fleisches hindurch“, erklärte der Mann hinterm Tresen. „Dabei metabolisiert er nicht nur Teile des Muskels und lagert Stoffwechselprodukte ab, sondern lockert auch die Zellstruktur auf, was zu einer unglaublichen Zartheit und einzigartigen Textur führt.“
Meine Güte. Wenn in seiner Küche jemand so geschraubt daherlabern würde, könnte er sich von Julius aber was anhören. Wäre das hier nicht die mit Abstand beste Metzgerei im Umkreis, würde er seine Meinung auch äußern, aber das war’s vermutlich doch nicht wert.
„Aha“, murmelte er also nur, während er überlegte, ob er dieses Schimmelfleisch echt mal probieren sollte. Der Hotelmanager stieg ihm eh schon aufs Dach, weil er unbedingt was Neues anbieten wollte. Der hielt seinen Laden für eine piekfeine Adresse. Gut, er bezahlte Julius auch dementsprechend, also konnte es ihm egal sein.
Entschlossen nickte er. „Packen Sie davon mal was ein. Zum Probieren. So 200 Gramm etwa.“ Er dachte kurz nach. „Nein, zwei Stück à 200 Gramm.“ Sicher war sicher.

Zwei Stunden später stand er zuhause in der kleinen Einbauküche und betrachtete die beiden Steaks, die der Metzger ihm abgeschnitten hatte. Sie waren von der Schimmelkruste befreit und hatten nicht die kräftige dunkelrote Farbe von gewöhnlichem Rindfleisch, sondern wirkten eher bräunlich. Aber sie fühlten sich tatsächlich gut an. Weich. Und der Geruch war wirklich einzigartig.
Nachdenklich schnupperte er an seinen Fingern. Er glaubte, den Duft von Erde ausmachen zu können. Waldboden vielleicht. Und … nein … oder doch? Er leckte die Spitze seines Zeigefingers ab.
Ach, verdammt! Er konnte so nicht richtig riechen. Ein so seltsames, einzigartiges Fleisch musste er mit allen Sinnen wahrnehmen!
Kurzerhand ließ er den Rollladen des Küchenfensters herunter und zog sich aus. Dann wandte er sich wieder der Ablagefläche zu. Noch in der Bewegung wurde er Wolf und schnappte mit seinen Fängen nach einem der Steaks, um es zu erforschen, seinen Geruch und Geschmack nicht nur mit den schwächlichen Sinnen eines Menschen aufzunehmen. Und ja, er schmeckte so viel mehr, so viele Details: den Pilz, etwas wie Waldboden nahe Eichen, Mais und Heu, mit denen das Rind gefüttert worden war, … Gierig verschlang er das köstliche Stück Fleisch und leckte sich die Schnauze. Wundervoll! Neu! Einzigartig!
Mit schierer Willenskraft wandte er sich vom zweiten Steak ab und wurde Mensch. Noch einmal leckte er sich über die Lippen, spürte dem Nachgeschmack des rohen Fleisches nach, der er jetzt wieder nur schwach wahrnehmen konnte.
Er lächelte. Als Koch hatte es durchaus Vorteile, Werwolf zu sein.

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