Anders

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder (Jugendliche), Schule, Ausgrenzung, Dating

„Was, echt jetzt? Schon wieder nicht?“ Larissa sah Sandra vorwurfsvoll an.
„Tut mir ja ehrlich leid.“ Annas Wangen brannten. Wie peinlich – insbesondere hier vor so vielen Leuten.
„Klar tut es das“, pflichtete Larissa ihr bei. Dann, als habe sie mit einem Mal einen Einfall, warf sie Sandra einen lauernden Blick zu. „… warum genau kannst du diesmal nicht mitkommen?“
Sandra holte Luft. Jetzt nur glaubhaft wirken! „Ich hab meinen Eltern schon vor Ewigkeiten versprochen, dass ich an diesem Abend –“
„Na klar“, unterbrach Larissa sie abfällig. „Deinen Eltern. Sorry, aber das ist die lahmste Ausrede aller Zeiten.“ Sie schenkte ihr ein geringschätziges Lächeln. „Weißt du, du könntest auch einfach zugeben, dass du nicht an Typen interessiert bist.“
Die Hitze in Annas Gesicht wurde noch stärker. „Das stimmt gar nicht“, widersprach sie. Aber sie merkte selbst, wie halbherzig ihre Beteuerung klang. Sie wusste, dass sie bereits verloren hatte.
„Das stimmt gar nicht“, äffte Larissa sie nach. „Also, das ist langsam sowas von offensichtlich! Süße, wir haben 2019 und du glaubst echt, wir verurteilen dich, wenn du lesbisch oder sonst was bist. Das ist echt scheiße von dir.“
Sandra wollte am liebsten im Boden versinken. „Also, das … Nein, ich … ähm …“, stammelte sie und hasste sich dafür, nicht die richtigen Worte zu finden.
Was war die beste Ausrede? Sollte sie nach dem Strohhalm greifen und behaupten, sie sei wirklich nicht an Männern interessiert? Aber was, wenn sie bei der nächsten Singleparty dann doch einen heißen Kerl kennenlernte? Sie würde ihn ziehen lassen müssen, um nicht als Lügnerin dazustehen. Das war auch keine Lösung.
„Ach, vergiss es“, sagte Larissa entschieden. „Weißt du, ich frag dich in Zukunft einfach nicht mehr. Selbst schuld.“ Mit diesen Worten ließ sie Sandra stehen und wandte sich jemand anderem auf dem Bahnsteig zu.

Die ganze Heimfahrt über fühlte Sandra sich elend. Sie hatte so lange darauf hingearbeitet, an der neuen Schule endlich akzeptiert zu werden. Sie wäre so gerne einfach Teil der Gemeinschaft, wollte mitfeiern, mitlachen, dazugehören. Doch zu dem Misstrauen, das ihr als der „Neuen“ ohnehin schon entgegenschlug, kam eben auch noch, dass sie anders war. Aber das konnte sie nicht offen zugeben.
Sie hatte dieses Versteckspiel so satt. Sie wollte nicht nur zuhause und unter ihren Freunden, sondern auch in der Schule einfach mal sie selbst sein können. Dort Freundschaften schließen, ein normales Leben führen. Ja, sie wollte normal sein. Warum musste denn ausgerechnet sie dieses Scheißschicksal treffen?
Manchmal hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, einfach die Wahrheit zu sagen. Wie Larissa sagte: Es war 2019 und die Leute waren eigentlich ziemlich aufgeklärt, wenn man von den älteren Generationen absah. Wäre es nicht möglich, dass man sie tatsächlich akzeptierte?

Nein, stellte sie ernüchtert fest und verbot sich weitere Tagträumereien. Manche Dinge würde die Menschheit vermutlich nie akzeptieren. Monster aus alten Horrorgeschichten gehörten da sicherlich dazu. Sie würde also weiter gute Mine zum bösen Spiel machen und einfach hoffen, dass die nächste Party nicht wieder auf eine Vollmondnacht fiel.

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