Musik

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder (Teenager), Tiere (Wölfe)

„Warum hebst du diesen alten Mist bloß auf?“
Ela lachte über die Frage. „Ich hab schon meine Gründe“, antwortete sie augenzwinkernd und nahm ihrem Sohn Arif die Vinylplatte aus den Händen, um sie wieder sicher in der Papphülle zu verstauen.
Arif sah ihr mit verschränkten Armen dabei zu. „Mal ganz ehrlich“, sagte er dann, „die Dinger gehören ins letzte Jahrhundert. Ach was, ins letzte Jahrtausend! Komm schon, Mama – du kannst doch nicht jeden alten Mist aufheben, oder?“
Ela lachte. „Ich hab meine Gründe.“
Aber dieses Mal gab ihr Sohn sich damit nicht zufrieden. „Das sagst du immer. Ganz ehrlich, was für einen Vorteil haben die Dinger? Nenn mir einen! Sie sind sperrig, brauchen viel Platz und müssen in dieses riesige Monstrum gesteckt werden, wenn man sie abspielen will.“ Er zeigte mit abschätziger Geste auf den Plattenspieler, den Ela sich gekauft hatte.
„Sag das nicht“, tadelte sie ihn spielerisch. „Das ist kein Monstrum, das ist ein Laserplattenspieler.“ Stolz warf sie dem Gerät einen Blick zu. „Alte Tonabnehmer verwenden eine richtige Nadel, damit wären die Platten längst abgenutzt.“
Arif verdrehte ob des Vortrags die Augen. „Ja, ja, ich weiß. Aber was ist daran so viel toller als hieran?“ Er hob sein Smartphone. „Da geht im MP3-Format mehr Musik drauf, als du hier im Schrank hast – und da sind die Streamingdienste noch nicht mal mitgerechnet!“
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Elas Lippen. „Ich bin eben altmodisch.“

Sie war erleichtert, als ihr Sohn daraufhin endlich aufgab und ihr und dem Wohnzimmer den Rücken kehrte.
Den wahren Grund für ihre Liebe zu den alten Platten konnte sie ihm leider nicht offenbaren. Dass die MP3-Kompression Frequenzen löschte, die für das menschliche Ohr nicht hörbar waren, wusste er. Aber auch andere Spezies genossen Musik. Doch leider durfte Arif zu seinem eigenen Schutz nie erfahren, dass sein Großvater ein Werwolf gewesen war.

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Anders

Inhaltsangaben/Content notes: Kinder (Jugendliche), Schule, Ausgrenzung, Dating

„Was, echt jetzt? Schon wieder nicht?“ Larissa sah Sandra vorwurfsvoll an.
„Tut mir ja ehrlich leid.“ Annas Wangen brannten. Wie peinlich – insbesondere hier vor so vielen Leuten.
„Klar tut es das“, pflichtete Larissa ihr bei. Dann, als habe sie mit einem Mal einen Einfall, warf sie Sandra einen lauernden Blick zu. „… warum genau kannst du diesmal nicht mitkommen?“
Sandra holte Luft. Jetzt nur glaubhaft wirken! „Ich hab meinen Eltern schon vor Ewigkeiten versprochen, dass ich an diesem Abend –“
„Na klar“, unterbrach Larissa sie abfällig. „Deinen Eltern. Sorry, aber das ist die lahmste Ausrede aller Zeiten.“ Sie schenkte ihr ein geringschätziges Lächeln. „Weißt du, du könntest auch einfach zugeben, dass du nicht an Typen interessiert bist.“
Die Hitze in Annas Gesicht wurde noch stärker. „Das stimmt gar nicht“, widersprach sie. Aber sie merkte selbst, wie halbherzig ihre Beteuerung klang. Sie wusste, dass sie bereits verloren hatte.
„Das stimmt gar nicht“, äffte Larissa sie nach. „Also, das ist langsam sowas von offensichtlich! Süße, wir haben 2019 und du glaubst echt, wir verurteilen dich, wenn du lesbisch oder sonst was bist. Das ist echt scheiße von dir.“
Sandra wollte am liebsten im Boden versinken. „Also, das … Nein, ich … ähm …“, stammelte sie und hasste sich dafür, nicht die richtigen Worte zu finden.
Was war die beste Ausrede? Sollte sie nach dem Strohhalm greifen und behaupten, sie sei wirklich nicht an Männern interessiert? Aber was, wenn sie bei der nächsten Singleparty dann doch einen heißen Kerl kennenlernte? Sie würde ihn ziehen lassen müssen, um nicht als Lügnerin dazustehen. Das war auch keine Lösung.
„Ach, vergiss es“, sagte Larissa entschieden. „Weißt du, ich frag dich in Zukunft einfach nicht mehr. Selbst schuld.“ Mit diesen Worten ließ sie Sandra stehen und wandte sich jemand anderem auf dem Bahnsteig zu.

Die ganze Heimfahrt über fühlte Sandra sich elend. Sie hatte so lange darauf hingearbeitet, an der neuen Schule endlich akzeptiert zu werden. Sie wäre so gerne einfach Teil der Gemeinschaft, wollte mitfeiern, mitlachen, dazugehören. Doch zu dem Misstrauen, das ihr als der „Neuen“ ohnehin schon entgegenschlug, kam eben auch noch, dass sie anders war. Aber das konnte sie nicht offen zugeben.
Sie hatte dieses Versteckspiel so satt. Sie wollte nicht nur zuhause und unter ihren Freunden, sondern auch in der Schule einfach mal sie selbst sein können. Dort Freundschaften schließen, ein normales Leben führen. Ja, sie wollte normal sein. Warum musste denn ausgerechnet sie dieses Scheißschicksal treffen?
Manchmal hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, einfach die Wahrheit zu sagen. Wie Larissa sagte: Es war 2019 und die Leute waren eigentlich ziemlich aufgeklärt, wenn man von den älteren Generationen absah. Wäre es nicht möglich, dass man sie tatsächlich akzeptierte?

Nein, stellte sie ernüchtert fest und verbot sich weitere Tagträumereien. Manche Dinge würde die Menschheit vermutlich nie akzeptieren. Monster aus alten Horrorgeschichten gehörten da sicherlich dazu. Sie würde also weiter gute Mine zum bösen Spiel machen und einfach hoffen, dass die nächste Party nicht wieder auf eine Vollmondnacht fiel.

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Der Spezialtrupp

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Soldaten, Zigaretten

„Was zum Teufel treiben die eigentlich immer?“
Arian wusste nicht, wovon Mark sprach, und folgte irritiert dem Blick seines Kameraden. Der war fest auf einen der Container gerichtet, in denen hier im Camp die Kommandantur ihre Büros hatte. Die Tür wurde gerade von innen geschlossen.
„Was meinst du?“ Arian hatte nicht erkennen können, wer dort hineingegangen war.
Mark runzelte die Stirn und zog an seiner Zigarette. Als er antwortete, wurden die Worte von Rauchschwaden begleitet. „Einmal im Monat ruft der Major seinen ‚Spezialtrupp‘ zusammen. Die kriegen dann irgendeinen Sonderauftrag und sind für die Zeit von allen anderen Diensten befreit.“
Arian wartete einen Moment, doch Mark sprach nicht weiter. „Und? Es bekommen doch immer mal wieder einzelne Trupps irgendwelche Sonderaufgaben.“
Zunächst erhielt er nur heiseres Lachen zur Antwort. Mark zog noch einmal an seiner Zigarette, dann erklärte er: „Das ist kein richtiger Trupp, Mann. Zwei Wachsoldaten, ein Feldjäger, eine Stabsärztin und jemand aus dem Lager. Oh, und der eine Typ aus der Unteroffizierskantine!“
Diese Zusammensetzung fand auch Arian ausgesprochen verwirrend. „Hä? Was sollen die denn zusammen machen?“
„Genau die richtige Frage, Kumpel“, murmelte Mark und behielt wieder den Bürocontainer im Auge. „Genau die richtige Frage.“
Stumm beobachteten die beiden, wie die wilde Mischung verschiedenster Dienstgrade und Truppengattungen das Büro verließ. Man unterhielt sich ungezwungen, lachte und verabschiedete sich, ohne den Beobachtern Beachtung zu schenken.
„Wohin gehen die?“, erkundigte Arian sich.
Mark warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit einer energischen Drehung seiner Stiefel aus. „Zu der Baracke hinten am Zaun.“
„Die, von der keiner weiß, wofür sie gut ist?“ Niemand hier hatte verstanden, warum dieser Behelfsbau direkt am das Lager umgebenden Stacheldrahtzaun gebaut worden war.
Mark nickte. „Ich hab nachher Wache“, raunte er seinem Kameraden leise zu. „Ich werd mal ein Auge drauf haben, wann die da wieder raus kommen. Vom Haupttor aus hat man das Ding ja ganz gut im Blick.“ Er zwinkerte Arian zu, grinste und ging.

Seine Beobachtungen an diesem Tag blieben jedoch wieder ergebnislos. Auch diesmal entgingen ihm die sechs Wölfe, die sich leise von der Rückseite des Containers aus in die Umgebung stahlen, um den Feind auszukundschaften.

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Feine Nase

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), food (Trüffel), Einbruch

Fahles Mondlicht fiel durch die kahlen Baumwipfel und beleuchtete schwach das verrottende Laub. Der monotone Klang des Regens wurde nur gelegentlich durch das Platschen eines größeren Tropfens unterbrochen, der von einem der Äste mitten zwischen die modrigen Blätter fiel. Und durch verstohlene Schritte, die sich leise durch die klamme Nacht schlichen.
Mit größter Vorsicht bewegte sie sich zwischen den Stämmen. Obwohl das Wetter fürchterlich und die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet hier und jetzt jemandem zu begegnen, ziemlich gering war, musste sie so umsichtig wie möglich sein. Auf keinen Fall durfte man sie heute Nacht erwischen.
Zweifellos würde das Loch, das sie in den Maschendrahtzaun geschnitten hatte, früher oder später entdeckt werden. Doch bis dahin hoffte sie, mit ihrer kostbaren Beute längst über alle Berge zu sein. Ihr Auto stand nur einige Dutzend Meter vom Schlupfloch im Zaun entfernt – sobald sie hatte, was sie suchte, konnte sie innerhalb weniger Minuten wieder verschwinden.
Rastlos wanderten ihre Augen durch den kahlen Forst. Er sah in dieser verregneten Winternacht ausgesprochen trostlos. Wären die Stämme nicht mit Markierungen besprüht, würde man sich hier allzu leicht verlaufen. Aufmerksam suchte sie die Nummer, auf die sie es abgesehen hatte: 235.
Endlich fand sie die gesuchte Zahl. Sie prangte auf der Borke einer beeindruckend großen, alten Eiche, deren Äste sich so weit ausgebreitet hatten, dass alle anderen Bäume ein gutes Stück von ihr entfernt wuchsen. Verdammt. Das vergrößerte ihr Suchgebiet beträchtlich. Und die Stelle, an der die berühmte Trüffel wuchs, war auch nicht wie erhofft markiert.
Aufmerksam stand sie da und lauschte in die sie umgebende Dunkelheit. Einige Augenblicke vergingen, in denen der Regen auf ihren Parka traf, sich zu größeren Tropfen vereinigte und an dem wasserdichten Stoff hinunterrann. Die Stille bestätigte ihre Beobachtung: Die Wachen drehten ihre Runden nur selten. Man verließ sich hier darauf, dass die fehlenden Markierungen der Stellen, an denen die Trüffel wuchsen, einen Diebstahl unmöglich machten.
Man hatte eben nicht mit Ihresgleichen gerechnet. Für die feine Nase eines Wolfs war es ein Kinderspiel, den stark duftenden Pilz aufzuspüren und zielgerichtet danach zu graben. Mit einem breiten Grinsen öffnete sie den Reißverschluss ihres Parkas und begann, sich für die Verwandlung auszuziehen.

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Frieden

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe)

Es war eine wundervolle Nacht. Die Luft war klar und trocken, roch nach dem ersten Heu, duftenden Blüten und dem nahen Wald. Der Mond stand in seiner ganzen Pracht am Himmel und beleuchtete die Umgebung fast so hell, als sei es Tag. Überall auf der Wiese, auf der sie miteinander herumgetollt waren, sobald die Tageshitze mit dem Sonnenuntergang endlich ein wenig abgenommen hatte, zirpten Grillen im Chor.
Lange hatten sie gespielt, Quatsch gemacht, gelacht und ihre gemeinsame Zeit genossen. Und dann hatten sie sich einfach so, wie sie waren, ins Gras fallen und die friedliche Umgebung auf sich wirken lassen.

Nun wachte er auf, weil ihn etwas an der Nasenspitze kitzelte. Mit einem leisen Knurren rümpfte er die Nase und versuchte, das, was ihn da berührte, mit einer leichten Kopfbewegung zu verscheuchen. Als es nicht half, öffnete er ein Auge, um den Störenfried zu identifizieren.
Der Anblick ließ ihn grinsen. Im Schlaf hatten sie sich eng aneinandergeschmiegt und die Wärme des jeweils anderen genossen. Irgendwann musste sie sich so gedreht haben, dass ihre Schwanzspitze nun direkt an seinem Gesicht lag. Als ob es Absicht wäre – doch ihr Atem ging immer noch ruhig und entspannt. Er wollte sie keinesfalls wecken und blieb daher ruhig liegen.
Ob sie im Traum Kaninchen nachjagte? Oder erinnerte sie sich an ihr Spiel und erlebte es ein weiteres Mal? Ab und zu zuckte ihr Schwanz leicht, sodass er sich sicher war, dass sie in Gedanken irgendeine Aktivität genoss.
Liebevoll schob er seine Nase in ihr Fell. Es war so voluminös, dass sie fast gänzlich darin verschwand, bis er endlich ihre Haut berührte. Dass er sie so berühren durfte, sie sogar eng an ihn gekuschelt tief schlief, zeugte von dem großen Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte und das er aus vollem Herzen erwiderte. Sie war ein wunderbarer Wolf. Eine großartige Persönlichkeit. Und seine wirklich beste Freundin.
Der leise Ruf einer Eule tönte vom Waldesrand herüber und weckte sie. Verschlafen hob sie den Kopf, sah ihn an und gähnte.
Alles okay, wollte er ihr sagen. Wir können noch eine ganze Weile schlafen. Der Tag ist noch weit. Da er es aber nicht aussprechen konnte, rieb er nur seinen Kopf an ihrem, leckte ihr liebevoll die Schnauze, gab ein beruhigendes Brummen von sich, und streckte sich wieder aus. Er würde diese Ruhe und den Frieden noch in vollen Zügen auskosten, bevor es Zeit wurde, wieder Mensch zu werden.

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Schimmel

Inhaltsangaben/Content notes: Food (Steak), Schimmel

„Schimmelfleisch?“ Julius sah den Metzger mit großen Augen an. „Echt jetzt?“
Der schmunzelte. „Die meisten reagieren erst mal so ungläubig. Aber versuchen Sie es doch mal – der Geschmack ist einzigartig!“
Julius verzog das Gesicht, als er auf das Preisschild sah. Er war zwar neugierig, aber das verschimmelte Fleisch war ganz schön teuer. „Klar schmeckt das anders“, erwiderte er grummelig. „Alles schmeckt anders, wenn’s schimmelt. Und das nicht unbedingt besser.“
Der Metzger schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, was ihn ärgerte. Aber er wollte mehr erfahren, also beherrschte er sich und hörte weiter zu.
„Der Pilz wächst in einem speziellen Reifeprozess durch die Zellstruktur des Fleisches hindurch“, erklärte der Mann hinterm Tresen. „Dabei metabolisiert er nicht nur Teile des Muskels und lagert Stoffwechselprodukte ab, sondern lockert auch die Zellstruktur auf, was zu einer unglaublichen Zartheit und einzigartigen Textur führt.“
Meine Güte. Wenn in seiner Küche jemand so geschraubt daherlabern würde, könnte er sich von Julius aber was anhören. Wäre das hier nicht die mit Abstand beste Metzgerei im Umkreis, würde er seine Meinung auch äußern, aber das war’s vermutlich doch nicht wert.
„Aha“, murmelte er also nur, während er überlegte, ob er dieses Schimmelfleisch echt mal probieren sollte. Der Hotelmanager stieg ihm eh schon aufs Dach, weil er unbedingt was Neues anbieten wollte. Der hielt seinen Laden für eine piekfeine Adresse. Gut, er bezahlte Julius auch dementsprechend, also konnte es ihm egal sein.
Entschlossen nickte er. „Packen Sie davon mal was ein. Zum Probieren. So 200 Gramm etwa.“ Er dachte kurz nach. „Nein, zwei Stück à 200 Gramm.“ Sicher war sicher.

Zwei Stunden später stand er zuhause in der kleinen Einbauküche und betrachtete die beiden Steaks, die der Metzger ihm abgeschnitten hatte. Sie waren von der Schimmelkruste befreit und hatten nicht die kräftige dunkelrote Farbe von gewöhnlichem Rindfleisch, sondern wirkten eher bräunlich. Aber sie fühlten sich tatsächlich gut an. Weich. Und der Geruch war wirklich einzigartig.
Nachdenklich schnupperte er an seinen Fingern. Er glaubte, den Duft von Erde ausmachen zu können. Waldboden vielleicht. Und … nein … oder doch? Er leckte die Spitze seines Zeigefingers ab.
Ach, verdammt! Er konnte so nicht richtig riechen. Ein so seltsames, einzigartiges Fleisch musste er mit allen Sinnen wahrnehmen!
Kurzerhand ließ er den Rollladen des Küchenfensters herunter und zog sich aus. Dann wandte er sich wieder der Ablagefläche zu. Noch in der Bewegung wurde er Wolf und schnappte mit seinen Fängen nach einem der Steaks, um es zu erforschen, seinen Geruch und Geschmack nicht nur mit den schwächlichen Sinnen eines Menschen aufzunehmen. Und ja, er schmeckte so viel mehr, so viele Details: den Pilz, etwas wie Waldboden nahe Eichen, Mais und Heu, mit denen das Rind gefüttert worden war, … Gierig verschlang er das köstliche Stück Fleisch und leckte sich die Schnauze. Wundervoll! Neu! Einzigartig!
Mit schierer Willenskraft wandte er sich vom zweiten Steak ab und wurde Mensch. Noch einmal leckte er sich über die Lippen, spürte dem Nachgeschmack des rohen Fleisches nach, der er jetzt wieder nur schwach wahrnehmen konnte.
Er lächelte. Als Koch hatte es durchaus Vorteile, Werwolf zu sein.

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Unverständnis

Inhaltsangaben/Content notes: Umweltschäden, Beziehungsende, Tiere (Wölfe)

Was sollte sie damit nur machen?
Ratlos sah Christin auf ein etwa zeigefingergroßes, mit zahllosen winzigen Löchern übersätes Ding in ihrer Hand hinunter. Es war ein Geschenk gewesen, ein Mitbringsel von einem Tauchurlaub, an dem sie nicht hatte teilnehmen können. Marcel hatte es ihr mitgebracht und mit theatralischer Gestik überreicht, kaum, dass er wieder zuhause angekommen war.
Zuhause. Traurig sah sie sich um. Um sie herum standen viele Kartons, alle nur teilweise befüllt mit persönlichen Habseligkeiten, dekorativem Krimskrams, Lieblingsbüchern, Kleidung, Kuscheldecken und anderen Sachen. Auf dem großen Wohnzimmertisch türmten sich Gegenstände, bei denen die Zuordnung zur richtigen Kiste schwerfiel. Zum Teil erinnerte sie sich schlicht nicht mehr: Hatte sie damals dieses lustige Sofakissen gekauft, auf dem der Spruch „Nur ein Viertelstündchen“ prangte, oder war er das gewesen? Andere Dinge hatten sie gemeinsam angeschafft, die Ausgaben dafür aufgeteilt. Der Fernseher war da vermutlich das teuerste Beispiel. Oder nein – das Sofa. Das hatte sie damals sogar noch mehr Geld gekostet, als sie diese Wohnung eingerichtet hatten.
Ihr Blick blieb an einer unglaublich weichen, warmen Kaschmirdecke hängen, die achtlos zusammengeknüllt in einer Ecke lag. Der Anblick erregte ihren Unmut. Er wusste, wie sehr sie diese Decke mochte und dass sie es gar nicht leiden konnte, wenn er sie so herumliegen ließ! Ob das wohl Absicht war? Wollte er sie jetzt, zum Ende ihrer Beziehung, mit Kleinigkeiten ärgern?
Rasch beruhigte sie die aufkeimende Wut in ihrem Innern. Sie durfte nicht zulassen, dass sie die Selbstbeherrschung verlor. Sie atmete tief durch und sah sich mit nüchternem Blick nochmals um.
Das hier war nicht mehr ihr Zuhause. Beziehungen endeten – so war es nun mal. Und eigentlich war dieses Ende auch keine Überraschung, zumindest jetzt, in der Retrospektive. Ihre Zukunftspläne, die gemeinsame Wohnung – wenn sie nun darüber nachdachte, erkannte sie, dass sie so einiges einfach überstürzt hatten. Die Eigenschaften, die sie und ihren Exfreund zu verbinden schienen, waren rein oberflächlicher Natur. In den Dingen, auf die es ankam, unterschieden sie sich gewaltig. Sie würde beispielsweise nie eine seiner Sofadecken so achtlos hinwerfen.
In dem Moment, in dem sie die Hand nach der Kaschmirdecke ausstreckte, um sie aufzuheben, fiel ihr Blick wieder auf den kleinen Gegenstand in ihrer Faust. Noch so ein Beispiel. Niemals hätte sie ein Stück von dem wunderschönen Korallenriff abgebrochen, nur um so ein sinnloses Souvenir zu verschenken. Die bloße Vorstellung weckte einen tiefliegenden Zorn in ihr. Wie konnte man nur so respekt- und rücksichtslos mit der Natur umgehen?!
Zusammen mit dem Stück Koralle pfefferte sie alle nostalgischen Erinnerungen an ihre Beziehung in den Müll. Bloße Menschen waren unmöglich. Sollte sie je wieder Interesse an einem romantischen Partner haben, würde sie sich auf bekanntem Terrain umschauen. Die Mentalität der anderen Leute aus ihrem Werwolfrudel verstand sie einfach besser.

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Experimente

Inhaltsangaben/Content notes: Alkohol, Tiere (Wölfe)

Meine Güte, hatte sie Kopfschmerzen! Nur mit sehr viel Mühe öffneten sich ihre Augen und schlossen sich sofort wieder, als sie das schrecklich grelle Licht des Morgens erblickten.
„Oh, sie ist wach!“
Schritte näherten sich. Unwillig knurrte sie, was in ihrer trockenen Kehle aber zu einem eher lächerlichen Krächzen wurde.
Jemand kniete neben ihr nieder. „Na, wie geht es dir?“
Neben ihr? Wo war sie eigentlich genau? Verwirrt probierte sie das mit dem Blinzeln noch einmal, spähte unter stark zusammengekniffenen Lidern hervor und versuchte, ihre Umgebung und ihre Erinnerungen irgendwie in Einklang zu bringen.
Sie sah grün. Gut, das war schon mal ein Anfang. Durch mehrmalige Wiederholung des Blinzelns wurde ihre Sicht klarer. Ein Garten. Der Garten ihrer Eltern! Sie lag dort auf dem Boden. Ein vorwitziger Grashalm schob sich in ein Nasenloch und löste damit ein Niesen aus, das die Schmerzen in ihrem Kopf zusätzlich befeuerte. Unglücklich verzog sie das Gesicht.
Ein Gutes hatte der Niesreflex jedoch: Er machte die Nase frei. Sofort erreichten sie die Gerüche von Gras, feuchter Erde, den Überresten eines inzwischen erkalteten Lagerfeuers und verschüttetem Bier. Gleichzeitig stürzten die Erinnerungen auf sie ein und sie verstand, was los war: Sie hatte einen Kater. Mit einem wenig begeisterten Knurren schloss sie die Augen wieder.
„Ah ja, so mies also.“ Jonas, der Jemand neben ihr, lachte laut, was ihr ein erneutes Murren entlockte. Sie rechnete ihrem Kumpel zwar hoch an, dass er nach der Party gestern geblieben war und offenbar auf sie aufgepasst hatte, aber seine lautstarke Lache war ihr heute Morgen nicht besonders willkommen.
Ob auch die anderen noch hier waren? Mühsam und mit unbedingter Vorsicht drehte sie den Kopf ein wenig, um einen Blick in Richtung der Feuerstelle zu werfen. Schlafsäcke verrieten, dass außer Jonas auch Markus und Katja hier übernachtet hatten. Nett von ihnen. Auf solche Freunde konnte man sich verlassen.
„Gut, dass deine Eltern noch nicht wieder hier sind“, sagte Markus, der ihren Blick bemerkte, mit einem breiten Grinsen. Gemeinsam mit den beiden anderen war er gerade dabei, die Gläser, Flaschen und Schüsseln einzusammeln. „Du hast noch zwei Stunden, um wieder halbwegs nüchtern zu werden.“
Scheiße. Dann blieb ihr wohl keine andere Wahl. Sie kämpfte sich auf alle viere und hielt inne, um dem Schwindelgefühl Herr zu werden. Klappte das so? Ja, sah ganz gut aus … Nein, doch nicht! Schreckliche Übelkeit stieg in ihr auf und sie rannte so schnell wie möglich zum nächsten Gebüsch.

Mitleidslos sah Katja zu dem Busch hinüber, zuckte die Achseln und grinste die anderen beiden an. „Sieht so aus, als hätte die Internetrecherche recht damit, dass Wölfe Alkohol nicht so gut verstoffwechseln können. Glaubt ihr, sie schafft es, sich zurückzuverwandeln, bevor ihre Eltern heim kommen?“

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Verwandtschaft

Inhaltsangaben/Content notes: Überfall, Tiere (Wölfe)

Unbehaglich sah er sich um. Seit geraumer Zeit hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden, doch egal, wie oft er über seine Schulter blickte, er konnte niemanden entdecken. Mitten in der Stadt, wo auch zu so später Stunde noch viel Volk auf den Straßen unterwegs war und zahlreiche Laternen die Umgebung erleuchteten, war das Gefühl noch nicht so stark gewesen. Doch es wurde intensiver, je mehr er sich den dunkleren und engeren Gassen des Standrandgebiets näherte.
Da! Hatte er nicht einen Schatten gesehen, der sich in den engen Spalt zwischen zwei Häusern zurückgezogen hatte? Angestrengt sah er hin. Das Geräusch verstohlener Schritte drang an sein Ohr. Nun bekam er es wirklich mit der Angst zu tun und beeilte sich noch ein wenig mehr.
„Stehenbleiben!“ Die zischende Stimme war nicht laut, doch auf ihn hatte sie dieselbe Wirkung wie ein gebrüllter Befehl: Er erstarrte vor Angst wie ein Kaninchen im Angesicht des Wolfs und sah furchtsam auf die Gestalt, die hinter der nächsten dunklen Ecke hervorkam. Ein langer Dolch reflektierte das bisschen Licht, das aus dem Fenster eines der Häuser in der Umgebung fiel. Da endlich löste sich seine Starre, er drehte sich um, um zu fliehen – und sah hinter sich einen weiteren Mann mit einem Dolch bereitstehen. Er war genau in eine Falle gelaufen!
„Flucht ist sinnlos, du Bestie!“ Auch der zweite Angreifer hielt seine Stimme gedämpft, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Wir wissen, was du bist, und sind vorbereitet.“ Mit einem kalten Grinsen hob er den Dolch. „Versilbert.“
Dieses eine Wort ließ sein Herz für einen Moment vor Schreck aussetzen. Silber verhinderte die beschleunigte Heilung, die seiner Spezies zum Vorteil gereichte. Was blieb ihm nun noch? Er fasste Mut, versuchte, seine Angst zu verbergen, und richtete sich stolz auf. „Flieht, so lange ihr könnt, und ich verschone euch!“
Doch vor wie hinter ihm erklang abfälliges Gelächter. Der Mann in seinem Blickfeld trat einen Schritt näher und hob die Klinge. „Wir wissen, dass du dich an Neumond nicht verwandeln kannst, du Untier.“
Sie wussten es? Woher? Es war das bestgehütete Geheimnis der Werwolfwelt. Wenn die Angreifer darüber Bescheid wussten, war er verloren. Ohne Waffen war er heute hilflos. Schicksalsergeben und verzweifelt zugleich lehnte er sich an die nächstgelegene Hauswand und erwartete seinen Tod.
Die Tür des Hauses, aus dessen Fenster schwacher Lichtschein drang, öffnete sich unvermittelt und eine ältere Frau mit einem großen Korb, aus dem allerlei Werkzeug ragte, trat geräuschvoll und umständlich auf die Straße. Die Angreifer beeilten sich, ihre Dolche zu verbergen, doch anstatt an ihnen vorbeizugehen, sprach die Frau sie an.
„Was macht ihr denn hier in dieser Gegend?“
Einer der Männer legte dem hoffnungslos dreinblickenden Werwolf jovial einen Arm um die Schultern. „Wir kommen hier nur zufällig vorbei, Mütterchen. Einen schönen Abend wünschen wir noch.“ Er wollte den Gestaltwandler mit sich ziehen, doch die Frau trat ihm in den Weg.
„Jannis? Ich habe dich fast nicht erkannt, so lange habe ich dich nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“
Erstaunt sah der Werwolf auf. Ja, tatsächlich, er kannte diese Frau. Sie war die Schwester eines älteren Rudelmitglieds, das vor einigen Jahren Jägern zum Opfer gefallen war. Doch bevor er etwas antworten konnte, spürte er, wie sich die Spitze eines Dolches in seinen Rücken bohrte.
„Ihr irrt euch, Mütterchen.“ Die Stimme des ersten Angreifers wurde nun scharf. „Geht eurem Tagwerk nach und behelligt uns nicht weiter!“
Aber anstatt dem Mann zu gehorchen, stellte die Frau ihren Korb ab und stemmte die Hände in die Hüften. Einen Moment lang musterte sie die beiden Männer mit zusammengekniffenen Augen, dann hob sie ihre Stimme und rief laut: „Magda! Maria! Beata! Johanna! Kennt ihr diese Fremden, die hier in unserer Gegend umherstreifen?“
Einige Momente verstrichen, dann öffneten sich nach und nach weitere Türen, die in diese Gasse mündeten, und ein gutes Dutzend Personen trat auf die Straße. Immer mehr Menschen umringten die drei Männer, schweigend, doch durch ihre schiere Anzahl eine klare Botschaft formulierend.
Die beiden Angreifer verzogen ihre Gesichter, traten aber wortlos den Rückzug an, als die Menschenmenge sich still teilte und ihnen einen Ausweg anbot. Nur Jannis blieb inmitten der vielen Leute zurück.
„Danke“, murmelte er verlegen und sah zu Boden.
Die Menschentraube löste sich langsam auf. Einige berührten ihn an den Schultern oder Armen, bevor sie wieder in ihren Häusern verschwanden, als seien sie nie dagewesen. Nur die Frau, die als Erste ihr Heim verlassen hatte, stand am Ende noch mit ihm auf der Straße.

„Wer seid Ihr?“ Jannis‘ Stimme durchbrach die fast heilig anmutende Stille der Gasse.
Die Frau hob ihren Korb an. „Wer wir sind? Erkennst du deine eigene Verwandtschaft nicht, Wolf?“ Sie lächelte. Dennoch lag auch Wehmut in ihren Zügen. „Wir sind nicht nur nutzlose Menschen, Wolf. Wir gehören ebenso zu euch wie ihr zu uns. So stark ihr auch sein mögt – in Nächten wie diesen sind wir es, die euch beschützen. Vergiss das nicht.“ Sie nickte ihm noch einmal zu, bevor sie ohne weiteren Kommentar wieder in ihrem Haus verschwand.
Und zum ersten Mal in seinem Leben verstand Jannis den Wert, den menschliche Werwolfverwandten boten.

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Träume

Inhaltsangaben/Content notes: Tiere (Wölfe), Sexismus

Fasziniert sahen sie auf das Objekt, das in weiter Ferne immer höher und höher in den Himmel stieg und dabei auf einer langen, dichten Wolke zu reiten schien.
„Glaubst du, sie schaffen es?“ Mary hielt ihren Blick fest auf die Rakete gerichtet.
Jane lächelte. „Ja.“
„Wie lange wird es dauern, bis sie dort sind?“
„Drei Tage.“ Sie hatte jedes Detail der Mission genau im Kopf.
Mary seufzte. Die Sehnsucht, die in diesem Laut lag, hallte auch in Janes Brust wider. Als sie sie ansah, glänzten ihre Augen. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, auf der Oberfläche des Mondes zu stehen?“, flüsterte Mary ehrfürchtig.
Jane dachte kurz über die Frage nach. „Nein“, erwiderte sie dann wahrheitsgemäß. „Bestimmt seltsam. Wegen der veränderten Schwerkraft und so.“
„Ich stelle es mir unglaublich faszinierend vor“, schwärmte Mary. „Die Kraterlandschaften, die man von den Fotos kennt. Wie tief sinken die Füße wohl in den Staub dort ein? Wie hell ist es wirklich? Kann man die Erde sehen? Und wie fühlt es sich an?“ Sie wurde immer aufgeregter, je mehr sie sagte.
„Was meinst du mit ‚anfühlen‘?“ Jane sah ihre Kollegin verwundert an. „Wenn man sich dort bewegt?“ Sie glaubte doch hoffentlich nicht an diesen New-Age-Quatsch, der besagte, dass das Mondlicht besondere Wirkung habe?
„Äh … ja, genau. Glaubst du, die Simulationen im Wassertank kommen der Realität nahe?“ Marys Wangen färbten sich ein wenig dunkler.
Diese Antwort beruhigte Jane. Ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen. „Keine Ahnung. Wir werden es nie ausprobieren können, solange die NASA uns nur für Berechnungen und Bürokratie einsetzt.“ Dann hob sie herausfordernd das Kinn. „Aber eines Tages wird es so weit sein! Wir Frauen haben schon bewiesen, dass wir als Ingenieurinnen und Mathematikerinnen taugen – irgendwann werden wir auch Astronautinnen!“
Schweigend sahen sie zu, wie die erste Stufe der Rakete abgesprengt wurde und in zwei Teilen langsam wieder zur Erde hinunterfiel. Der Teil, der die drei Astronauten dem Mond entgegentrug, war weiterhin korrekt auf Kurs und stieg immer weiter dem Weltraum entgegen.

Während Jane davon träumte, eines Tages ins All zu fliegen, wusste Mary, dass sie die Erde niemals verlassen würde. Nicht nur, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass die NASA weibliche Astronauten suchen würde, so lange sie noch fit genug für diesen Job war, sondern auch, da sie es nicht wagen würde, sich dem Mond so sehr zu nähern. Er beeinflusste sie schon auf der Erde so stark! Was würde wohl geschehen, wenn …
Sie schüttelte den Kopf und lächelte schwach. Die Vorstellung einer Werwölfin in der Raumkapsel war einfach zu absurd.

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