Inhaltsangaben/Content notes: Überfall, Tiere (Wölfe)
Unbehaglich sah er sich um. Seit geraumer Zeit hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden, doch egal, wie oft er über seine Schulter blickte, er konnte niemanden entdecken. Mitten in der Stadt, wo auch zu so später Stunde noch viel Volk auf den Straßen unterwegs war und zahlreiche Laternen die Umgebung erleuchteten, war das Gefühl noch nicht so stark gewesen. Doch es wurde intensiver, je mehr er sich den dunkleren und engeren Gassen des Standrandgebiets näherte.
Da! Hatte er nicht einen Schatten gesehen, der sich in den engen Spalt zwischen zwei Häusern zurückgezogen hatte? Angestrengt sah er hin. Das Geräusch verstohlener Schritte drang an sein Ohr. Nun bekam er es wirklich mit der Angst zu tun und beeilte sich noch ein wenig mehr.
„Stehenbleiben!“ Die zischende Stimme war nicht laut, doch auf ihn hatte sie dieselbe Wirkung wie ein gebrüllter Befehl: Er erstarrte vor Angst wie ein Kaninchen im Angesicht des Wolfs und sah furchtsam auf die Gestalt, die hinter der nächsten dunklen Ecke hervorkam. Ein langer Dolch reflektierte das bisschen Licht, das aus dem Fenster eines der Häuser in der Umgebung fiel. Da endlich löste sich seine Starre, er drehte sich um, um zu fliehen – und sah hinter sich einen weiteren Mann mit einem Dolch bereitstehen. Er war genau in eine Falle gelaufen!
„Flucht ist sinnlos, du Bestie!“ Auch der zweite Angreifer hielt seine Stimme gedämpft, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Wir wissen, was du bist, und sind vorbereitet.“ Mit einem kalten Grinsen hob er den Dolch. „Versilbert.“
Dieses eine Wort ließ sein Herz für einen Moment vor Schreck aussetzen. Silber verhinderte die beschleunigte Heilung, die seiner Spezies zum Vorteil gereichte. Was blieb ihm nun noch? Er fasste Mut, versuchte, seine Angst zu verbergen, und richtete sich stolz auf. „Flieht, so lange ihr könnt, und ich verschone euch!“
Doch vor wie hinter ihm erklang abfälliges Gelächter. Der Mann in seinem Blickfeld trat einen Schritt näher und hob die Klinge. „Wir wissen, dass du dich an Neumond nicht verwandeln kannst, du Untier.“
Sie wussten es? Woher? Es war das bestgehütete Geheimnis der Werwolfwelt. Wenn die Angreifer darüber Bescheid wussten, war er verloren. Ohne Waffen war er heute hilflos. Schicksalsergeben und verzweifelt zugleich lehnte er sich an die nächstgelegene Hauswand und erwartete seinen Tod.
Die Tür des Hauses, aus dessen Fenster schwacher Lichtschein drang, öffnete sich unvermittelt und eine ältere Frau mit einem großen Korb, aus dem allerlei Werkzeug ragte, trat geräuschvoll und umständlich auf die Straße. Die Angreifer beeilten sich, ihre Dolche zu verbergen, doch anstatt an ihnen vorbeizugehen, sprach die Frau sie an.
„Was macht ihr denn hier in dieser Gegend?“
Einer der Männer legte dem hoffnungslos dreinblickenden Werwolf jovial einen Arm um die Schultern. „Wir kommen hier nur zufällig vorbei, Mütterchen. Einen schönen Abend wünschen wir noch.“ Er wollte den Gestaltwandler mit sich ziehen, doch die Frau trat ihm in den Weg.
„Jannis? Ich habe dich fast nicht erkannt, so lange habe ich dich nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“
Erstaunt sah der Werwolf auf. Ja, tatsächlich, er kannte diese Frau. Sie war die Schwester eines älteren Rudelmitglieds, das vor einigen Jahren Jägern zum Opfer gefallen war. Doch bevor er etwas antworten konnte, spürte er, wie sich die Spitze eines Dolches in seinen Rücken bohrte.
„Ihr irrt euch, Mütterchen.“ Die Stimme des ersten Angreifers wurde nun scharf. „Geht eurem Tagwerk nach und behelligt uns nicht weiter!“
Aber anstatt dem Mann zu gehorchen, stellte die Frau ihren Korb ab und stemmte die Hände in die Hüften. Einen Moment lang musterte sie die beiden Männer mit zusammengekniffenen Augen, dann hob sie ihre Stimme und rief laut: „Magda! Maria! Beata! Johanna! Kennt ihr diese Fremden, die hier in unserer Gegend umherstreifen?“
Einige Momente verstrichen, dann öffneten sich nach und nach weitere Türen, die in diese Gasse mündeten, und ein gutes Dutzend Personen trat auf die Straße. Immer mehr Menschen umringten die drei Männer, schweigend, doch durch ihre schiere Anzahl eine klare Botschaft formulierend.
Die beiden Angreifer verzogen ihre Gesichter, traten aber wortlos den Rückzug an, als die Menschenmenge sich still teilte und ihnen einen Ausweg anbot. Nur Jannis blieb inmitten der vielen Leute zurück.
„Danke“, murmelte er verlegen und sah zu Boden.
Die Menschentraube löste sich langsam auf. Einige berührten ihn an den Schultern oder Armen, bevor sie wieder in ihren Häusern verschwanden, als seien sie nie dagewesen. Nur die Frau, die als Erste ihr Heim verlassen hatte, stand am Ende noch mit ihm auf der Straße.
„Wer seid Ihr?“ Jannis‘ Stimme durchbrach die fast heilig anmutende Stille der Gasse.
Die Frau hob ihren Korb an. „Wer wir sind? Erkennst du deine eigene Verwandtschaft nicht, Wolf?“ Sie lächelte. Dennoch lag auch Wehmut in ihren Zügen. „Wir sind nicht nur nutzlose Menschen, Wolf. Wir gehören ebenso zu euch wie ihr zu uns. So stark ihr auch sein mögt – in Nächten wie diesen sind wir es, die euch beschützen. Vergiss das nicht.“ Sie nickte ihm noch einmal zu, bevor sie ohne weiteren Kommentar wieder in ihrem Haus verschwand.
Und zum ersten Mal in seinem Leben verstand Jannis den Wert, den menschliche Werwolfverwandten boten.